Ausgabe 12/2016 - 24.03.2016
Köln (epd). Dass mit Jaël etwas nicht stimmt, erfahren ihre Eltern schon relativ früh in der Schwangerschaft. "Es war zu viel Fruchtwasser da", sagt ihr Vater Wolfgang A. Es folgen zahlreiche Untersuchungen bei Spezialisten, bis deutlich ist: Das Baby hat höchstwahrscheinlich Trisomie 18 - einen Gendefekt, bei dem das Chromosom 18 nicht wie üblich zweifach vorliegt, sondern dreifach. Die Prognose hätte kaum schlimmer sein können: Die betroffenen Kinder sind geistig behindert, leiden an Fehlbildungen und werden durchschnittlich nur wenige Tage alt. Doch für Jaëls Eltern steht von Anfang an fest: "Wir möchten unser Kind bekommen."
Etwa eines von 6.000 Babys wird mit Trisomie 18 geboren. Die allermeisten Eltern entscheiden sich noch in der Schwangerschaft für einen Abbruch, sobald sie die Diagnose erhalten. "Nur etwa eine von 50 Müttern bringt ihr Kind zur Welt", sagt der Geburtsmediziner Dietmar Schlembach.
Über eine Fruchtwasserpunktion und einen anschließenden Gentest wüssten die Eltern in der Regel bis zur 20. oder 22. Woche Bescheid, erläutert der Leiter der Praxis für Pränataldiagnostik am Klinikum Neukölln in Berlin. "Wir weisen die Eltern dann darauf hin, dass die Prognose sehr ernst ist und dass das Kind eventuell in der Gebärmutter oder bald nach der Geburt sterben oder aber sehr wahrscheinlich nicht alt werden wird."
Trisomie 18 ist - anders als Trisomie 21, das sogenannte Down-Syndrom - den meisten Menschen unbekannt. Daran soll der Spielfilm "Nur eine Handvoll Leben" mit Annette Frier und Christian Erdmann in den Hauptrollen etwas ändern, den die ARD am 23. März ausgestrahlt hat. Frier und Erdmann spielen ein Paar, das ein Kind mit Trisomie 18 erwartet und dessen Beziehung daran zu scheitern droht.
"Viele denken, ein behindertes Kind muss man heute nicht mehr bekommen", sagt Film-Produzentin Heike Voßler. "Es wird irgendwie impliziert, dass unsere moderne Medizin Behinderungen verhindert." Das sei aber nicht so: Die meisten dieser Kinder würden nur nicht geboren.
Für Jaëls Eltern steht nie in Frage, dass sie ihr Kind bekommen wollen. "Aber all die Gespräche mit den Ärzten waren schon sehr bedrückend", sagt der 44-jährige Wolfgang A. "Man kriegt ein schlechtes Gewissen eingeredet und muss sich rechtfertigen, dass man sich für das Kind entschieden hat." Er und seine Frau Shabnam kämpfen um ihr Kind - erst auf der Intensivstation, später zu Hause. Sie überwinden die Magensonde, über die Jaël die ersten Monate künstlich ernährt werden muss, stehen mit ihr plötzliche Atemaussetzer und insgesamt vier Lungenentzündungen durch. Immer wieder schwebt Jaël in Lebensgefahr.
"Wenn man ein todkrankes Kind hat, dann gibt es meiner Meinung nach zwei Wege, damit umzugehen", schreibt Shabnam A. in ihrem Internet-Blog "www.trisomie-18.de/blog": "Entweder man fragt immer wieder nach dem Warum und hadert mit dem Leben und der Welt, oder man entscheidet sich bewusst, sein Kind in vollen Zügen zu genießen und einfach für Kleinigkeiten dankbar zu sein. Wir haben uns für den zweiten Weg entschieden."
Jaël dankt ihren Eltern, indem sie Jahr um Jahr übersteht, Geburtstag um Geburtstag erlebt. Sie wird 13 Jahre alt und stirbt schließlich im Dezember 2014. "Am Ende wurde sie viel schwächer, hat viel geschlafen", sagt Wolfgang A. "Wir merkten, dass ihr Körper einfach nicht dafür gemacht war, alt zu werden."
Dass Jaël so lange überlebt hat, stellt auch für Mediziner eine kleine Sensation dar. Was wäre, wenn mehr dieser Kinder ausgetragen würden? "Es ist durchaus denkbar, dass heute ein Teil der Kinder älter würde", meint Pränataldiagnostiker Schlembach. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Medizin sei das heute eher machbar als vor zehn oder 20 Jahren. Und obwohl auch die Pränataldiagnostik immer genauer wird, kann sie nicht voraussagen, wie schwer ein Kind körperlich behindert sein wird. "Der Ausprägungsgrad ist vorher nicht bekannt", sagt Schlembach.
Wolfgang und Shabnam A. würden sich jederzeit wieder so entscheiden. "Natürlich war es oft sehr schwer", sagen sie. "Aber wir haben so viel von ihr zurückbekommen, so viel Kuscheln und Umarmungen, so viele Lächeln und so viele unbezahlbare Situationen." Das habe sie als Menschen sehr geprägt.