Ausgabe 12/2016 - 24.03.2016
Dortmund (epd). In Norwegen sind Gleichberechtigungstrainings für Asylbewerber Pflicht. "Wer Werte und Regeln im neuen Land nicht kennt, kann sie auch nicht einhalten", lautet die Grundidee. In deutschen Integrationskursen habe hingegen die Arbeit an sozialen Kompetenzen zu wenig Priorität, kritisiert der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak: "Es wird viel gefordert, aber wenig angeboten."
Die Mädchen tanzen nachts in der Disco, plaudern mit Männern, trinken Alkohol. Sie sind an Sex interessiert, glaubt mancher junge Einwanderer. "Wie kommst du darauf? Wer sind die Mädchen? Was bedeutet die Situation?" Mit solchen Fragen müssen sich in Norwegen alle anerkannten Asylbewerber auseinandersetzen: Norwegische Werte sind Teil eines verpflichtenden Informationsprogramms. Kristian Nicolai Stakset-Gundersen von der norwegischen Einwanderungsbehörde UDI sagt: "Wir vermitteln unsere Werte und Lebensweise mit Vorträgen, Rollenspielen und Gruppengesprächen." Der Umgang mit Frauen und Sexualität gehöre dazu.
Das ist seit 2011 so. In Norwegen begann nach einer Serie von Vergewaltigungen in der 130.000 Einwohner zählenden Stadt Stavanger eine einschneidende Debatte. Viele Täter waren "Asylsuchende, aus Ländern mit viel Gewalt und einem völlig anderen Frauenbild". Der größte norwegische Flüchtlingsheim-Betreiber Hero startete daraufhin Kurse gegen sexuelle Gewalt: Gesprächskreise, in denen auch die "unausgesprochenen Regeln im Umgang der Geschlechter" entschlüsselt werden: Wer abends weggeht, kann auch liiert sein, kurze Röcke sind keine Einladung, zum Beispiel. Elemente dieser Kurse sind jetzt im Pflichtprogramm.
"Wer die gesellschaftlichen Regeln im neuen Land nicht versteht, kann sie auch nicht einhalten", sagt Jannicke Stav von der Organisation Alternatif til Vold - Alternativen zu Gewalt. Ihre Kurse für männliche Flüchtlinge liefen bis 2014 in allen 104 norwegischen Asylzentren, dann strich der Staat das Geld - trotz "großem Erfolg". "Wir überlegen, das jetzt wieder einzuführen", sagt UDI-Sprecher Stakset-Gundelsen. "Die Teilnehmer berichteten, dass sie die Lebensweise der Norweger jetzt besser verstehen", sagt Psychologin Stav. "Auch das Zusammenleben in der Unterkunft wurde konfliktärmer."
Die Gesprächsgruppen knüpften an Erfahrungen und Werte aus dem Heimatland an, machten vorhandene Rollenbilder und ihre Wirkung bewusst. "Viele kommen aus autoritären Staaten, wo sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie und ihre Haltungen nichts bewirken", sagt Stav. "Hier werden sie bestärkt, dass jeder einzelne etwas gegen Gewalt und für eine gleichberechtigte Gesellschaft tun kann."
Gleichberechtigung ist auch offizielles Lernziel der verpflichtenden deutschen Integrationskurse, die aus 600 Stunden Sprachkurs und 60 Stunden Orientierung bestehen. Der Orientierungsteil solle einen höheren Stundenanteil bekommen, einzelne Aspekte intensiviert werden - "nicht als Reaktion auf Köln", betont eine Sprecherin der Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. "Gleichberechtigung fließt in alle Kursinhalte ein, auch weil Frauen dort in verschiedenen Rollen auftreten", sagt auch Simone Kaucher vom Deutschen Volkshochschul-Verband.
Ahmet Toprak hält das nicht für ausreichend. "Sozialkompetenz zu trainieren ist viel wichtiger für Einwanderer, als zu wissen, wie die Hauptstadt von Sachsen-Anhalt heißt", sagt der Erziehungswissenschaftler, der zu Gewaltbereitschaft muslimischer Jugendlicher forscht. "Informationen kann man nachlesen, gesellschaftliche Regeln einer neuen Kultur muss man gemeinsam erarbeiten." Es würden falsche Prioritäten gesetzt. Sprach- und Orientierungskurs sollten getrennt werden, "ohne Deutschkenntnisse funktioniert der Orientierungsteil nicht". Verpflichtend sollte beides sein. "Bei der aktuellen Debatte um die Integrationspflicht geht aber unter, dass es derzeit weder ausreichende Sprachkursangebote noch ein schlüssiges Konzept für einen Wertekurs gibt", sagt Toprak.