sozial-Branche

Behinderung

Der Chor der Hände




Die "Sign-Singers" in Aktion.
epd-bild/Birgit Vey
Ein Chor, in dem keiner singt? Den gibt es in Tübingen, und er macht "Musik" in der Gebärdensprache. Das ist nicht nur ein Erlebnis für Gehörlose, sondern auch für Hörende.

Da steht der kleine Chor zusammen. Und kein Ton kommt über die Lippen seiner Mitglieder. Stattdessen formt die Gruppe mit den Fingern Buchstaben-Figuren. "Sign Singers" nennen sich die Tübingerinnen, die Lieder in Gebärdensprache vortragen.

Seit 2002 ist die Gebärdensprache in Deutschland als eigenständige Sprache anerkannt. "Das ist die Muttersprache der Gehörlosen", erklärt Rita Molthau, Leiterin der Sign Singers. 80.000 Gehörlose gibt es laut Deutschem Gehörlosenbund in der Republik. Zu 15 Prozent werde die Taubheit vererbt, in den meisten Fällen sind Krankheiten oder Unfälle die Ursachen.

Auch Molthaus Eltern sind gehörlos. Die gelernte Erzieherin beherrscht diese Sprache also perfekt und gibt ihr Wissen als Dolmetscherin und VHS-Dozentin seit 15 Jahren weiter. Aus diesen VHS-Kursen kristallisierte sich der Chor heraus.

"Wir sprechen mit dem ganzen Körper"

"Die Gebärdensprache kann man mit dem Chinesischen vergleichen", sagt Molthau. Denn beide Sprachen setzen auf Zeichen. Allerdings gibt es einen Unterschied: Die Gehörlosen-Sprache kennt keine Schrift. "Wir sprechen mit dem ganzen Körper", beschreibt es die Dozentin.

Im Einsatz sind unter anderem die Finger. Ein waagerechter Daumen und ein senkrechter Finger stehen für den Buchstaben "L". Auch ganze Wörter gelingen auf diese Weise, etwa eine mit dem Finger vor dem Gesicht gezeichnete Schlangenlinie, die den Donnerstag darstellt. Selbst Grammatik kann man so vermitteln, beispielsweise Relativsätze. Hoch gezogene Augenbrauen bedeuten "wenn", herabfallende Augenbrauen "dann".

Diese Gesten und die Mimik sind das Besondere bei den Konzerten, bei denen ein zweiter, singender Chor den klanglichen Part übernimmt. "Es stellt sich ein stille, aufmerksame Atmosphäre ein", erklärt Molthau. So kann das Publikum die visuellen Botschaften aufnehmen. "Wir informieren über die Augen", wie es Teilnehmerin Laura Sniegula formuliert. "Es macht Klick im Kopf, und der Text wird verstanden", ergänzt Kollegin Katharina Tress.

Für Gehörlose werden so die gesungenen Liedzeilen verständlich. Und Gesten vermitteln Hörenden, dass auch sie manchen Inhalt nicht kannten. Wiegende Hände, die ein fiktives Kind halten, zeigen die "Sign Singers" beispielsweise und demonstrieren damit, worum es in einem Liebeslied tatsächlich geht.

"Man muss seine Gefühle einbringen", findet Sniegula. Dem stimmt Molthau zu: "Unsere Konzerte sind doppelt emotional, sie gehen direkt ins Herz." Die große Herausforderung sei, für die verschiedenen Facetten die passenden Zeichen zu finden. "Die Klänge der Melodie, das Fröhliche, Leichte und Traurige in Gebärdensprache übertragen", beschreibt es die Leiterin.

Auftritte ziehen nicht nur Gehörlose an

Balladen von Sängerin Adele und Fetziges von Michael Jackson gehören zum Repertoire. Auch ironische Anspielungen wie Herbert Grönemeyers "Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist" tragen die "Sign Singers" vor. "Das zieht nicht nur Gehörlose an", sind sich alle einig. Beim Refrain machen auch Hörende in Gebärdensprache mit. Und das Konzert beschließen die Gäste am Ende mit Händen, die nach oben schnellen und sich drehen - dem Applaus der Gehörlosen.

"Nach dem Auftritt kommen viele Fragen", sagt Doreen Sniegula. Eine lautet, ob die "Sign Singers" selbst taub seien, was sie nicht sind. "Wenn wir die Lieder nicht hören würden, könnten wir sie gar nicht angemessen in Gebärdensprache übersetzen", antwortet ihre Tochter Laura.

Birgit Vey

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