Ausgabe 18/2016 - 06.05.2016
Freiburg (epd). Die Verfassungsbeschwerde des Sozialverbandes VDK gegen den sogenannten "Pflegenotstand" wurde im Februar durch das Bundesverfassungsgericht gar nicht erst zur Entscheidung angenommen. Karlsruhe locuta – causa finita? Karlsruhe hat gesprochen – ist damit die Sache erledigt? Für die Praktiker in der Pflege wohl kaum. Das Anliegen des VDK war es, gestützt auf die Promotion von Susanne Moritz, feststellen zu lassen, dass die gegenwärtigen staatlichen Maßnahmen zum Schutze der Grundrechte von Pflegeheimbewohnern nicht genügen und der Staat zur Abhilfe und kontinuierlichen Überprüfung verpflichtet ist.
Das Verfassungsgericht hat dagegen argumentiert, dass es erst dann eingreifen könne, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht evident verletzt hat. Die Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch Unterlassen des Gesetzgebers sei aber nicht hinreichend substanziell vorgetragen worden. So seien den Richtern zufolge weder Unzulänglichkeiten von landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung ausreichend deutlich dargelegt worden, noch zeige die Beschwerde auf, inwieweit sich eventuelle Defizite in der Versorgung von Pflegebedürftigen durch staatliche normative Maßnahmen effektiv verbessern ließen.
Die Verfassungsbeschwerde belegt nach Meinung des Gerichts auch nicht hinreichend, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt worden seien. Das Gericht verweist die Beschwerdeführer sodann auf die Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Pflegeheimen und die Möglichkeit des fachgerichtlichen Rechtsschutzes.
Dass überhaupt ein Beschluss des höchsten deutschen Gerichtes herbeigeführt werden musste, verweist auf ein Problem an der Wurzel des Systems der Pflegeversicherung und –gesetzgebung. Nicht nur der VDK, auch andere Akteure in der Altenhilfe können Systemfehler klar benennen: So wird etwa die Behandlungspflege in stationären Pflegeeinrichtungen nicht aus der Krankenversicherung bezahlt. Während ambulant Pflegebedürftige neben den Leistungen der Pflegeversicherung auch Krankenversicherungsleistungen zur Pflege beziehen, müssen Heimbewohner allein aus dem Budget der Pflegeversicherung versorgt werden.
Ein weiteres Problem für die Heimbetreiber entsteht dadurch, dass durch die verbesserten Möglichkeiten ärztlicher und ambulanter Versorgung immer mehr Menschen in immer höherem Lebensalter in ein Heim einziehen. Ihr Versorgungsbedarf insbesondere, wenn es auf das Lebensende zugeht, wächst deutlich an.
Bei der an sich begrüßenswerten Einführung eines Hospiz- und Palliativgesetzes wurden die Heime jedoch stiefmütterlich behandelt. Obwohl sie wachsende Aufgaben in der Begleitung Schwerkranker und Sterbender tragen, wurden ihnen für die gesundheitliche Versorgungsplanung am Lebensende nur Mittel im Umfang von rund 33 Millionen Euro bereitgestellt. Nach den Berechnungen von Caritas und Diakonie hätten für eine umfassende Hospiz- und Palliativversorgung jedoch 250 bis 500 Millionen Euro bereitgestellt werden müssen.
In einzelnen Bundesländern sind die Unterfinanzierungen der Personalkosten der stationären Einrichtungen aus dem inzwischen korrigierten „externen Vergleich“ noch nicht wieder aufgeholt. Tarifliche Vergütungen sind in der stationären Pflege inzwischen gesetzlich abgesichert, aber der Substanzverzehr der Vergangenheit ist eine schwere Hypothek. Und für die ambulante Pflege steht eine entsprechende Regelung weiterhin aus.
Auch die inzwischen von der Bevölkerung offenbar völlig ignorierten und wissenschaftlich fragwürdigen Qualitätsprüfungen mit ihren "Pflegenoten" belasten die Einrichtungen mit einem Aufwand, der von den täglichen Pflegeaufgaben abgezogen wird.
Aus diesen Strukturmängeln lassen sich zwar keine konkreten Verletzungen der Menschenwürde ableiten, aber häufig kompensieren die Pflegenden die Systemungerechtigkeit durch ihre eigene physische Überlastung. Die Träger der Einrichtungen sind gezwungen, je nach pflegerischem Behandlungsaufwand ihrer Bewohnerinnen und Bewohner an der Grenze der Wirtschaftlichkeit zu manövrieren. Dass die sich aus diesen fundamentalen Fehlern summierenden Belastungen des Pflegesystems in Einzelfällen eine menschenunwürdige Pflege erzeugen, lässt sich nicht ausschließen – aber eben auch kaum stichhaltig beweisen.
Es wäre deshalb ein Trugschluss, aus dem Ablehnungsbescheid des Bundesverfassungsgerichtes zu folgern, dass der Pflegenotstand nur ein Konstrukt der Beschwerdeführer sei. Er ist real, aber er muss jeweils konkret benannt und bearbeitet werden. In extremen Einzelfällen mag das ein Weg sein. Aber man kann die Korrektur struktureller Mängel nicht der Initiative durch Einzelklagen von Bewohnerinnen und Angehörigen überlassen. Hier ist politisches Handeln gefragt.
Deshalb wird es in der kommenden Legislaturperiode um grundlegende Fragen an das System der Pflegeversicherung gehen:
* Wird mit dem Grundsatz ambulant vor stationär das Pflegesystem adäquat gesteuert oder müssten die unterschiedlichen Versorgungsbedarfe und –orte nicht durch eine gerechtere Ressourcenverteilung gefördert werden?
* Wird die Trennung von stationären und ambulanten Versorgungsformen durch neue Wohn- und Pflegemodelle nicht ohnehin obsolet?
* Wie sinnvoll ist die Trennung von Pflege- und Krankenversicherung angesichts der vielfältigen Abgrenzungsprobleme?
* Wie kommen wir zu Personalausstattungen, die einer Diskussion um die menschenwürdige Behandlung von Heimbewohner ein Ende setzen?
* Wie wird die Qualität der Pflege in der Öffentlichkeit transparent dargestellt?
* Wie kann die Bereitschaft der Bevölkerung, in ein qualitätsvolles, personell gut ausgestattetes Pflegesystem zu investieren, gefördert werden – durch Steuern und Versicherungsbeiträge - aber auch durch beruflichen oder freiwilligen Einsatz?
Die Altenhilfe erlebt zur Zeit eine Reformwelle, welche die politisch Verantwortlichen, die Verbände, Träger und Mitarbeitenden massiv fordert. Aber sie muss sich fortsetzen. Denn vom Ziel der menschenwürdigen Versorgung aller Pflegebedürftigen im Alter dürfen wir nicht ablassen.