sozial-Politik

Demografie

"Ohne Jobs ist die Bevölkerung auf dem Land nicht zu halten"




Antonia Milbert
epd-bild/privat
Viele junge Frauen verlassen ländliche Regionen und ziehen in die Städte, besonders stark in Ostdeutschland. Auf dem Land fehlen immer mehr Frauen. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Geschlechterproportionen. Vereinsleben und Politik werden immer mehr männerdominiert. Und Frauen fehlen in der Ausbildung und am Arbeitsmarkt.

Auf dem Land in Ostdeutschland fehlen immer mehr Frauen. Das belegen Studien, die das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit Sitz in Bonn erstellt. Auf 100 Männer kommen dort aktuell im Schnitt 87 Frauen. "Frauen fehlen als Fachkräfte, als potenzielle Partnerinnen und Mütter sowie als Teil der sozialen Netzwerke", sagt Forscherin Antonia Milbert. Das werde für die Entwicklung dieser Räume zum Problem. Im Gespräch mit Dirk Baas geht sie den Ursachen der Abwanderung auf den Grund und zeigt mögliche Lösungswege auf.

epd sozial: Noch immer wandern mehr junge Frauen als Männer in ländlichen ostdeutschen Regionen in die Großstädte ab. Was ist daran bedenklich?

Antonia Milbert: In der Altersspanne 18 bis unter 25 Jahre wandern deutlich mehr junge Frauen aus ländlichen Regionen ab als junge Männer, in der Altersspanne 25 bis unter 30 Jahre etwas mehr junge Männer als junge Frauen. Weil die Geschlechterunterschiede in der ersten Alterspanne höher ausfallen als in der zweiten, verändern sich die Geschlechterproportionen in diesen Abwanderungsregionen zugunsten der Männer. Das heißt, der Anteil junger Männer steigt.

epd: Was bedeutet das konkret?

Milbert: Wie problematisch diese Veränderungen sind, ist kaum untersucht. Aus Diversitätsstudien in Unternehmen weiß man jedoch, dass stärker diversifizierte Unternehmen mittel- und langfristig bessere Betriebsergebnisse erwirtschaften und erfolgreicher sind. Auch wenn sich Fragen und Ergebnisse aus Unternehmen nicht unmittelbar auf Regionen übertragen lassen, so ist doch zu vermuten, dass eine stärker diversifizierte Sozialstruktur in Regionen auch hier mittel- und langfristig notwendig ist für ihre Entwicklung.

epd: Das betrifft nur die Wirtschaft.

Milbert: Ja, aber bedenkt man des Weiteren, dass einer der Gründe für die Abwanderung junger Frauen auch ihre fehlende Integration im öffentlichen Leben auf dem Land ist, so trägt ein steigender Männeranteil nicht dazu bei, die Belange junger Frauen in den Regionen zu stärken. Im Gegenteil ist zu vermuten, dass Vereinsleben und politische Aktivitäten weiterhin stark von Männern und aus Männersicht gestaltet werden.

epd: Was ist zu tun?

Milbert: Es braucht auch mehr flexible Arbeitsmodelle, schnelles Internet für Geschäfts- und Privatgebrauch, Infrastrukturen müssen um- statt zurückgebaut werden. Und politische Gremien müssen sich stärker für Frauen öffnen. Das sind alles Modernisierungserfordernisse, die den Frauen eine stärkere Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen.

epd: Sie haben bei Ihren Untersuchungen festgestellt, dass die Frauen im Vergleich deutlich mobiler sind. Sind sie einfach mutiger?

Milbert: Die Entscheidungen zur Wanderung sind sehr pragmatisch und mit "Mut" oder "Risikofreude" nicht treffend beschrieben. Die höhere Mobilität ist auch kein neues Phänomen. In früheren Jahrhunderten beschränkte sie sich jedoch vornehmlich auf die Nahwanderung. Heute finden wir kaum Unterschiede zwischen Frauen und Männern, was die angestrebten Zielorte anbetrifft. So bleibt als Unterschied vornehmlich, dass Frauen bereits zu Zwecken der Ausbildung abwandern, junge Männer aber zu einem größeren Anteil die Ausbildung noch in der Heimatregion abschließen und erst zum Berufseinstieg oder aus Karrieregründen abwandern. Das hat sowohl mit dem Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebot in den Regionen zu tun als auch mit der gestiegenen Neigung junger Frauen zu höheren Bildungsabschlüssen. Frauen erwarten, dass sie in größeren Städten vielfältigere Optionen vorfinden.

epd: Viele Abwanderer kommen irgendwann auch wieder zurück. Die Frauen offenbar nicht. Welche Gründe hat das?

Milbert: Diese Aussage ist so nicht zu treffen. Insgesamt nimmt die Wanderung von 25- bis unter 30-Jährigen aus den Städten in ländliche Regionen ab. Das heißt, dass insgesamt mehr junge Menschen nach ihrer Ausbildung in den Orten (Städten) der Ausbildung bleiben oder in andere (Groß-)Städte weiterziehen. Das gilt also sowohl für junge Männer als auch für junge Frauen. Ob es sich um Neu- oder Rückwanderung handelt, können wir in unseren Auswertungen der amtlichen Wanderungsstatistiken nicht unterscheiden. Wir können das nur aus der Interpretation der Zeitreihen und mit Hilfe von anderen Untersuchungsergebnissen schließen.

epd: Also ist letztlich der Job entscheidend?

Milbert: Was für die Ausbildungsplätze gilt, gilt ebenso für die Arbeitsplätze: (Groß-)Städte bieten jungen Frauen vielfältigere Optionen als ländliche Regionen. Allerdings werden in dieser Alterspanne nicht nur Karriereentscheidungen, sondern auch Entscheidungen zur Familiengründung getroffen. In dieser Altersspanne wandern junge Menschen dann oft nicht mehr allein, sondern in Partnerschaft oder in die Wohnorte des Partners. Hierin folgen nicht zwangsläufig die Frauen ihren Partnern, sondern umgekehrt auch Partner ihren Frauen. Dennoch ist die traditionelle Reihenfolge, Frauen ziehen zwecks Familienzusammenführung in die Orte des Partners, noch häufiger vorzufinden als umgekehrt. Das lässt sich aus dem durchschnittlichen Heiratsalter von Frauen und Männern, dem durchschnittlichen Alter von Frauen bei erstem Kind sowie Eigenangaben bei Umfragen schießen.

epd: Wenn viele jüngere Frauen in die Ballungsräume ziehen, gibt es dort einen Frauenüberhang. Ist das auch problematisch?

Milbert: Grundsätzlich fehlen Erkenntnisse über die Auswirkungen von schiefen Geschlechterproportionen in Regionen. Eine spezifische Problematik aus dem höheren Frauenanteil in Großstädten lässt sich für die Großstädte direkt nicht ableiten. Beobachtbar ist allerdings, dass die Geburtenzahlen in den Großstädten zunehmen. Das geschieht allein dadurch, dass die Zahl junger Frauen zunimmt, welche ihre Kinder auch in den Großstädten bekommen. Die spüren derzeit bereits einen deutlichen Druck hinsichtlich des Ausbaus der Kinderbetreuungsinfrastruktur. Es ist vorstellbar, dass die Zunahme junger Menschen in Großstädten allgemein und insbesondere junger Frauen den Sog auf junge Frauen aus ländlichen Regionen verstärken. Das ist allerdings eine Vermutung. Es fehlen aber hinreichende Erkenntnisse und Belege.

epd: Welche Folgen haben diese Wanderungsbewegungen für das soziale Gefüge auf dem Land? Gehen dort mit Blick auf die ohnehin anhaltende Alterung der Gesellschaft endgültig die Lichter aus?

Milbert: "Der letzte macht das Licht aus" ist eine Chiffre, die für die ländlichen Regionen in Deutschland kaum zu nutzen ist. Es mag einzelne kleine Dörfer und Siedlungen geben, die brach fallen, ganze Landstriche jedoch nicht. Die Verhältnisse zwischen Stadt und Land ordnen sich permanent neu. Nicht alle ländlichen Regionen verlieren aktuell genauso wenig wie alle städtischen Regionen gewinnen. Es ist wichtig, hier stärker zu differenzieren. Allerdings können junge Frauen die Erwartungen, die an sie gestellt werden, kaum erfüllen – vor allem dann nicht, wenn sie selbst im Privaten zwischen Beruf, Familie und Alltagsbewältigung eingespannt sind. Dennoch fehlen sie und ihre Kompetenzen in den Regionen. Und Politik muss sich dieser Problematik bewusst sein, wenn sie in der Regionalentwicklung zunehmend auf bürgerschaftliches Engagement setzt, wie es gerade im ländlichen Raum in der Daseinsvorsorge der Fall ist.

epd: Die wissenschaftliche Beobachtung eines Phänomens ist eine Sache, die Problemlösung seitens der Politik die andere. Haben Politik und Wirtschaft die Wanderungsbewegungen und ihre Folgen überhaupt auf dem Schirm?

Milbert: Der demografische Wandel allgemein ist sehr stark im Fokus von Politik und Wirtschaft, die Verschiebungen in den Geschlechterproportionen sind es dagegen nicht. Lokal und regional orientiert sich Politik noch zu sehr einseitig auf die Belange von jungen Müttern, etwa wenn es um Kindertagesbetreuung oder um Schulen geht. Was in den ländlichen Regionen für Frauen notwendig ist, fasst das Thesenpapier des Deutschen LandFrauenverbandes am besten zusammen. Dieses Papier füge ich Ihnen als Dokument bei.

epd: Ohne Jobs wird es schwer sein, die Bevölkerung in ländlichen Räumen zu halten. Was ist zu tun?

Milbert: Der Arbeitsmarkt ist in der Tat ein Kernbereich, weil viele Frauen zunehmend erwerbstätig sind und sein wollen und nicht nur als Zuverdienerin mit geringem Stundenumfang und/oder in geringqualifizierten Tätigkeiten. Es kann aber nicht allein darum gehen, passfähige Jobs für Frauen zu schaffen, sondern bestehende Jobs müssen auch für Frauen geöffnet und attraktiv werden, so etwa im Handwerk oder im produzierenden Gewerbe. Dass diese Berufe körperlich zu schwer für Frauen sind, ist veraltetes Denken, weil in vielen Berufen und Produktionen technische Neuerungen insgesamt die Arbeit erleichtern. Und auch die Bezahlung ist zu hinterfragen: Dass die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männer mit durchschnittlich 33 Prozent höher ist als im Bundesdurchschnitt zeigt, dass strukturelle Probleme für Frauen auf dem Arbeitsmarkt in ländlichen Räumen ungleich schwerer zu lösen sind als in der Stadt.

epd: Lebensstile wandeln sich. Ist es da nicht völlig normal, dass es zur Landflucht kommt?

Milbert: Der Begriff Landflucht unterstellt eine Zwangsläufigkeit der Wanderung vom Land in die Stadt, die es so noch zu keiner Zeit gegeben hat, auch nicht im 18. und 19. Jahrhundert, als dieser Begriff geprägt wurde. Es gibt auch immer Wanderungen von der Stadt auf das Land und zwischen städtischen Räumen und zwischen ländlichen Räumen.

epd: Was ist dann das Neue?

Milbert: Die starken Land-Stadt-Wanderungen von heute werden nur von den jungen Menschen getragen und dies hat vornehmlich mit dem höheren Bildungsstand und höheren Akademisierungsgrad zu tun. Generell aber genießt das Landleben immer noch einen hohen Stellenwert. Auch haben junge Menschen eine enge Bindung zu ihrer ländlichen Heimatregion. Wanderungen vom Land in die Stadt werden dann zwangsläufig, wenn in den ländlichen Regionen nicht die gewünschten Ausbildungs- und Arbeitsplätze verfügbar sind.

epd: Was könnten weitere Motive sein?

Milbert: Ein Teil der Wanderungen ist möglicherweise auch vom Wunsch bestimmter Lebensstile getragen, wie zum Beispiel dem Verzicht auf das eigene Auto, eine Innenstadtwohnung statt einem Wohnhaus oder dem urbanen Lebensumfeld. Wie hoch der Anteil der Bevölkerung mit urban geprägtem Lebensstil ist, ist schwer zu sagen, weil sich Bildungsgrad und Lebensstil häufig wechselseitig beeinflussen.

epd: Die ländlichen Räume haben oft kaum Chancen, sich wirtschaftlich attraktiver zu machen. Billiger Wohnraum allein scheint die Bevölkerung nicht zum Bleiben zu bewegen. Was ist zu tun?

Milbert: Diese Aussage ist in Gänze nicht zutreffend. Es gibt strukturstarke ländliche Räume und ländliche Räume mit einem beachtlichen Anteil in der Wissensökonomie. Diese verzeichnen Zuwanderung in ähnlicher Höhe wie städtische Räume. Besonders schwer haben es jedoch ländliche Räume mit Strukturschwächen. Wohnraum ist eine bedeutende Komponente; Eigentum hält die Menschen am Wohnort.

epd: Gibt es Projekte, die zeigen, wie sich die Abwanderung stoppen oder zumindest verlangsamen lässt?

Milbert: Jede Region erfährt sowohl Zu- als auch Fortzüge. Entscheidend für die Entwicklung ist, ob und in welchem Maße die Zuzüge oder die Fortzüge überwiegen. Abwanderung muss man auch zulassen, schließlich ist das Sammeln von Erfahrungen an anderen Orten eine Bereicherung. Die entscheidende Frage wird als eher sein, ob es gelingt, mehr Rück- und Zuwanderung zu generieren. Hierzu gibt es teilweise Projekte für Rückkehrer etwa in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen. Die Erfolge solcher Programme sind aber bescheiden, so lange es an Arbeitsplätzen fehlt.


« Zurück zur vorherigen Seite


Weitere Themen

"Wann sehe ich Papa wieder?"

Tausende Kinder sehen ihre Väter nur für wenige Stunden im Monat. Sie müssen durch Sicherheitskontrollen, Umarmungen sind oft nicht erlaubt: Söhnen und Töchtern von Strafgefangenen fehlt der Familienalltag. Initiativen wollen das ändern.

» Hier weiterlesen

KAB wirbt für höheren Mindestlohn

Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB) hat die die Mindestlohn-Kommission dazu aufgerufen, beschlossene Tariferhöhungen in die Ermittlung des neuen Mindestlohns einzubeziehen. "Es ist Menschen, die auf den niedrigen Mindestlohn angewiesen sind, nicht zu vermitteln, warum ausgehandelte und wirksame Tarifverträge nicht zur Mindestlohnberechnung herangezogen werden", erklärte KAB-Bundesvorsitzender Andreas Luttmer-Bensmann am 14. Juni in Köln.

» Hier weiterlesen

Zahl der Auszubildenden auf historischem Tiefstand

Die Zahl der Auszubildenden in Nordrhein-Westfalen hat einen historischen Tiefstand erreicht. Ende 2015 befanden sich 303.681 und damit zwei Prozent weniger junge Menschen in einer dualen Ausbildung als ein Jahr zuvor, wie das statistische Landesamt am 14. Juni in Düsseldorf mitteilte. Das war die niedrigste Zahl an Auszubildenden seit Beginn der Aufzeichnungen der Berufsbildungsstatistik Anfang der 1970er Jahre.

» Hier weiterlesen