sozial-Branche

Armut

Gastbeitrag

"Bildungs- und Teilhabepaket hält nicht, was es verspricht"




Heinz Hilgers
epd-bild / Deutscher Kinderschutzbund
Kritik am Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder in Hartz-IV-Familien gibt es seit dessen Einführung vor fünf Jahren. Bestehende Defizite seien noch immer nicht behoben, moniert Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Welche Reformen nötig wären und wie ein Systemwechsel aussehen könnte, beschreibt er in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

Das Bildungs- und Teilhabepaket ist fünf Jahre nach seiner Einführung als gescheitert anzusehen, denn es hält nicht, was es verspricht: Die Defizite in der Förderung von Kindern und Jugendlichen sind nicht behoben. Die Leistungen erreichen zu viele Kinder nicht, das Paket ist bürokratisch und hat vorher bestehende Angebote zum Teil abgebaut. Was wir brauchen, ist ein Systemwechsel in der Kinder- und Familienförderung.

Ausschluss von Lebenschancen

Zunächst der Blick zurück: Das Bundesverfassungsgericht hat am 9. Februar 2010 das bis dahin bestehende Verfahren der Regelsatzbemessung für verfassungswidrig erklärt. Im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf konstatierte das Gericht einen "völligen Ermittlungsausfall" und machte deutlich, dass insbesondere bei Kindern im schulpflichtigen Alter ein zusätzlicher Bedarf zu erwarten sei. Ohne Deckung der Kosten, die für hilfebedürftige schulpflichtige Kinder entstünden, so hielt das Gericht fest, drohe diesen der Ausschluss von Lebenschancen.

Fünf Jahre später ist klar: Die Einführung des Gesetzes zum 1. April 2011 hat die beanstandeten Defizite in der Förderung von Kindern und Jugendlichen aus einkommensarmen Haushalten nicht behoben.

Im Bildungs- und Teilhabepaket wurden bereits vorher bestehende Leistungen mit einzelnen neuen Leistungen kombiniert und unter neuem Namen zusammengefasst. Gleichzeitig wurden die bestehenden Regelbedarfe für Schulkinder unter Verweis auf das "neue" Gesetz gekürzt. Es umfasst folgende Leistungskomponenten: Zuschuss zum persönlichen Schulbedarf in Höhe von 100 Euro jährlich, Zuschuss zu gemeinsamer Mittagsverpflegung in Schulen und Tageseinrichtungen, Erstattung von Schülerbeförderungskosten, Finanzierung von Lernförderung, mehrtägigen Klassenfahrten und eintägigen Ausflügen sowie die Förderung der Teilhabe durch Erstattung (beispielsweise von Vereinsbeiträgen) von bis zu zehn Euro im Monat.

Von staatlichen Leistungen abhängig

Fünf Jahre nach Einführung der Regelungen ziehen wir eine kritische Bilanz. In seiner Resolution zur Einführung des Pakets hat unser Verband bereits 2012 auf bestehende Probleme hingewiesen. Die Kritik ist weiterhin hochaktuell. Nach wie vor ist die Kinderarmut in Deutschland anhaltend hoch.

Laut dem gerade veröffentlichten Abschlussbericht zur Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistung für Bildung und Teilhabe des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hatten im Jahr 2013 rund 3,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 25 Jahren grundsätzlich einen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket - waren also abhängig von staatlichen Leistungen.

Das Bildungs- und Teilhabepaket hat weder grundsätzliche Verbesserungen noch mehr Teilhabegerechtigkeit herbeiführen können, vielmehr besteht auch weiterhin ein enger Zusammenhang zwischen Erfolg und Wohlbefinden auf der einen und dem Familieneinkommen auf der anderen Seite. Eine Kindheit in Armut führt auch weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Armut in der Jugendzeit sowie im Erwachsenen- und Rentenalter.

Faktisch schlechter gestellt

Die Leistungen sind restriktiv gestaltet und wurden seit dem Jahr 2011 nicht erhöht, obwohl sie schon damals zum Teil zu niedrig waren. Deutlich wird das insbesondere am Schulbedarfspaket. Es beinhaltet einheitlich pro Schuljahr 70 Euro zum Schuljahresbeginn und 30 Euro zu Beginn des zweiten Halbjahres. Gegenüber der vorigen Auszahlung mit dem Regelbedarf stellt das Schulbedarfspaket die Kinder sogar faktisch schlechter, weil die zuvor gewährten Leistungen gestrichen wurden.

Der Deutsche Kinderschutzbund hat gemeinsam mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband auf der Grundlage von Informationsblättern von Schulen zusammengestellt, was zum Schuljahresbeginn typischerweise von den Eltern angeschafft werden muss. Im Ergebnis kostet eine Schulerstausstattung weit mehr als 200 Euro.

Mit Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets wurde der Anteil für Bildung und Teilhabe im Regelsatz gekürzt, weil ein Teil der Bedarfe nun über das Bildungs- und Teilhabepaket geleistet wird. Der vormals im Regelsatz pauschalierte und damit automatisch ausbezahlte Anteil für Bildung und Teilhabe ist nun abhängig von einer aktiven Antragstellung sowie der Angebotsstruktur vor Ort. Mit anderen Worten: Statt unbürokratisch Teilhabechancen zu eröffnen, wurden neue Zugangshürden geschaffen.

Enormer Verwaltungsaufwand

Die Leistungen für Bildung und Teilhabe werden auch deshalb von einem Großteil der Berechtigten gar nicht in Anspruch genommen. Gerade einmal 57 Prozent aller leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen beantragten im Jahr 2014 mindestens eine Bildungs- und Teilhabeleistung, wie das Bundessozialministerium in seinem Abschlussbericht festhält.

Das Bildungs- und Teilhabepaket ist als antragsabhängige Sach- beziehungsweise Dienstleistung konzipiert. Das produziert einen enormen Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten. Ob für den Ausflug ins Puppentheater für sieben Euro oder die Abschlussfahrt der Schulklasse für 450 Euro: Es müssen Unterschriften eingeholt, Belege eingereicht, fehlende Unterlagen angefordert und Kopien gemacht werden. Das erhöht nicht nur die Hürden der Inanspruchnahme, sondern produziert auch Kosten.

Allein den Kommunen entstehen jährliche Verwaltungskosten in Höhe von 136 Millionen Euro. Addiert man die Verwaltungskosten von Leistungsberechtigten, Leistungsanbietern sowie Kita- und Schulverwaltungen dazu, entstehen Bürokratiekosten von mehr als 194,8 Millionen Euro jährlich für die Abwicklung des Teilhabepaketes - bei gerade mal laut Ministerium 531 Millionen Euro insgesamt verausgabten Mitteln.

Anspruch auf Existenzsicherung

Anstelle einer niedrigschwelligen, unbürokratischen Förderung wurde mit dem Bildungs- und Teilhabepaket eine neue Leistung etabliert, die die Kinder und Jugendlichen nicht erreicht. Das Bildungs- und Teilhabepaket hat sich auch fünf Jahre nach seiner Einführung nicht als Hebel zur Herstellung von Chancengerechtigkeit herausgestellt.

Jedes Kind hat einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die Sicherung seiner Existenz. Dazu gehören auch diejenigen materiellen Voraussetzungen, die für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Die staatliche Gemeinschaft muss ein bedarfsgerechtes Kinderexistenzminimum mit einer unbürokratischen, einheitlichen und niedrigschwelligen Geldleistung, einer Kindergrundsicherung, gewährleisten.

Das kindliche Existenzminimum muss dafür sach- und bedarfsgerecht neu ermittelt werden. Bedarfe dürfen nicht weiterhin "ins Blaue hinein" geschätzt werden. Daneben müssen unregelmäßige oder untypische, über einen längeren Zeitraum anfallende Bedarfe als Mehrbedarfe anerkannt werden.

Stärkung der kommunalen Verantwortung

Die Bereitstellung von Angeboten und Leistungen der Bildung und Teilhabe muss wieder dort erfolgen, wo sie hingehört: in kommunaler Verantwortung. Es bedarf dafür ausreichender finanzieller Ressourcen, um die kommunalen Aufgaben im Rahmen der individuellen Förderleistungen der Kinder- und Jugendhilfe zu erfüllen. Dazu gehört die abgestimmte und geplante bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung der Sport-, Musik- und Kulturvereine sowie der kommunalen Freizeit- und Lernorte.

Dazu kann die Einführung eines individuell einklagbaren Rechtsanspruchs auf Leistungen nach Paragraf 11 SGB VIII beitragen. Darüber hinaus muss das Kooperationsverbot im Bildungsbereich abgeschafft werden, um so die Schulen finanziell besser ausstatten zu können. Nur so kann ausreichend in die Förderung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen investiert werden.

Heinz Hilgers ist Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.

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