sozial-Politik

Interview

Psychiatriereform

"Psychiatrien müssen stärker am Patienten ausgerichtet werden"




Dirk Heidenblut
epd-bild/ Deutscher Bundestag
Die SPD verlangt Änderungen am Gesetzentwurf zur Psychiatriereform, die zum Jahreswechsel in Kraft treten soll. Sie geht damit auf Kritiker ein, die Fehlanreize durch das geplante Vergütungssystem befürchten.

Seit gut zehn Jahren erhalten Krankenhäuser pauschale Leistungen für die Behandlung ihrer Patienten. Ausnahme sind die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken. Ab Januar 2017 sollen aber auch für sie Pauschalen gelten. Doch Fachverbände befürchten, dass es durch Fehlanreize und überbordende Dokumentationspflichten zu Rückschritten in der Behandlung führen könnte. Im Interview erklärt Dirk Heidenblut, Mitglied der SPD-Fraktion im Gesundheitsausschuss des Bundestages, dass der "Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen" (PsychVVG) nachgebessert werden muss. Mit ihm sprach Hinnerk Feldwisch-Drentrup.

epd sozial: In der Psychiatrie wird bereits seit einigen Jahren eine Reform des Finanzierungssystems vorbereitet. Kritiker fürchten, dass es hierdurch zu einer Ökonomisierung der Psychiatrie kommt. Was ist das Ziel dieser Veränderungen, Herr Heidenblut?

Dirk Heidenblut: Wir von der SPD wie auch die gesamte Regierungskoalition verfolgen mehrere Ziele. Zum einen geht es darum, Transparenz zu schaffen: Wir wollen wissen, welche Leistungen erbracht werden – und welche Wirkungen die erbrachten Leistungen haben. Zum anderen ist es wichtig, die Übergänge zu vereinfachen zwischen einer ambulanten Therapie und der stationären Krankenhausbehandlung. Nach Überzeugung der SPD muss zukünftig mehr ambulant und weniger stationär behandelt werden. Lange Krankenhausaufenthalte sollen vermieden werden.

epd: Das bislang geplante „Pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“ (PEPP) war wegen ökonomischer Fehlanreize in die Kritik geraten. Laut Experten erschwert es eine individuelle Behandlung von Patienten ...

Heidenblut: Auch PEPP ist unter der Prämisse gestartet, die Übergänge zwischen den verschiedenen Behandlungsformen zu vereinfachen. Das allerdings konnte PEPP nicht verwirklichen. Vielmehr drohte es gerade bei Schwerstkranken die Behandlung zu verschlechtern. Wir sind jetzt sehr froh, dass wir zusammen mit den Fachverbänden eine Veränderung bewirken konnten, die auch in einer Expertenanhörung am 26. September als deutlich positive Entwicklung bewertet wurde.

epd: Laut einer Stellungnahme von mehr als 20 Fachverbänden bleibt der Gesetzentwurf der großen Koalition noch weit hinter den Forderungen und Erwartungen zurück, während das Gesundheitsministerium Anfang des Jahres eine Einigung verkündet hatte. Wie groß ist der Änderungsbedarf aus Ihrer Sicht?

Heidenblut: Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Gesetz im ersten Aufschlag nicht alle Beteiligten befriedigt. In bestimmten Bereichen teile ich die Einschätzung der Verbände. Sicherlich werden wir Veränderungen vornehmen: Neben der Frage, wie zukünftig die Budgets der Kliniken bestimmt werden, sind verbindliche Personalrichtlinien eine ganz wichtige Frage. Diese Mindestvorgaben für das Personal sollen sicherstellen, dass Kliniken tatsächlich die Personalstellen bekommen, die für eine angemessene Behandlung notwendig sind. Für uns war dies immer ein zentraler Punkt – wie auch die Berücksichtigung struktureller und regionaler Besonderheiten, wie beispielsweise die regionale Pflichtversorgung. Es ist notwendig, dass wir für schwerstkranke Patienten ein System schaffen, in dem sie bestmöglich behandelt werden. An diesen Stellen müssen wir unter anderem nachbessern.

epd: Kliniken und Krankenkassen streiten um die Ausgestaltung der verbindlichen Personalrichtlinien. Ärzte fürchten, dass sie demnächst ohne diese Absicherung der Personalausstattung dastehen werden ...

Heidenblut: Eigentlich sagen alle Beteiligten, dass wir verbindliche Vorgaben brauchen. Unverbindlichkeit führt auf jeden Fall dazu, dass am Ende unklar ist, welches Personal für welche Leistung eingesetzt wird. Das halte ich für den absolut schlechtesten Weg. Ich würde für die SPD ausschließen, dass wir uns auf unverbindliche Standards einlassen. Es muss am Ende eine Verbindlichkeit geben, oder die bestehende Verbindlichkeit muss so lange fortgeschrieben werden, bis es eine vernünftige Ablösung gibt. Und ja, auch die Finanzierung muss klar sein.

epd: Kliniken werden zwar oft Stellen zugesichert – aber beispielsweise nach Tarifsteigerungen keine ausreichende Mittel für qualifiziertes Personal bereitgestellt. Inwiefern besteht hier Handlungsbedarf?

Heidenblut: Die SPD ist natürlich sehr dafür, dass in allen Häusern nach Tarif bezahlt wird. Wir haben auch in somatischen Kliniken eine Regelung eingeführt, die in der Refinanzierung auch eine bessere Berücksichtigung von Tarifsteigerungen vorsehen. Im Bereich der Psychiatrie müssen wir uns ebenso anschauen, wie wir sicherstellen können, dass die Kosten refinanziert werden können.

epd: Das Gesetz sieht einen Vergleich der Krankenhauskosten zwischen den Häusern vor. Ärzte- und Patientenverbände befürchten, dass teure Kliniken sparen müssen, während andere Häuser kaum zusätzliches Geld erhalten. Werden so der Psychiatrie immer mehr Mittel entzogen?

Heidenblut: Die Einschätzung teile ich so nicht, aber auch da werden wir nochmal hinschauen. Wir wollen die Psychiatrie vernünftig ausstatten. Trotzdem sind sich wohl alle einig, dass sich die Kliniken einem vernünftigen Vergleich stellen müssen. Es kann nicht sein, dass wir in bestimmten Fällen exorbitante Abweichungen haben.

Ich glaube nicht, dass es nur den Weg nach unten gibt. Wir müssen aber genau prüfen, welche Wirkung das System hat. Wo gespart werden kann, müssen wir herausfinden, ob es geht. Es geht aber nicht darum, die Psychiatrie schlechter auszustatten, sie jedoch schon transparenter zu machen.

epd: Zukünftig werden Psychiater und Pfleger viel mehr dokumentieren müssen, Kliniken stellen teils Kodierfachkräfte statt Pflegepersonal ein. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Heidenblut: Es gibt natürlich einen Dokumentationsaufwand, weil wir Geld geben und ein Ziel erreichen wollen. Dass muss dokumentiert sein. Ich habe immer Befürchtungen, dass der Bürokratieaufwand überborden könnte, daher versuchen wir den Aufwand zu verringern und einen vernünftigen Mittelweg zu finden.

epd: Das neue Finanzierungssystem orientiert sich wie schon PEPP stark an den Diagnosen der Patienten. Es wird berichtet, dass kaum noch mittelschwere Depressionen diagnostiziert werden – womöglich, weil schwere besser vergütet werden. Geht dies nicht zu Lasten der Patienten?

Heidenblut: Jedes Abrechnungssystem hat natürlich immer bestimmte Auswirkungen, das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es nicht zu einer Verschlechterung kommen wird. Mit dem neuen Gesetz wollen wir diese Probleme vermeiden. Wenn es so kommen sollte, dass praktisch nur noch schwerste Depressionen diagnostiziert werden, dann müssten wir gegensteuern. Natürlich sollen die Diagnose und Therapie an der Erkrankung des einzelnen Patienten ausgerichtet sein.

epd: Besondere Bedürfnisse haben Kinder und Jugendliche. Teilen Sie die Sorgen von Psychiatern, dass dieser Bereich bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde?

Heidenblut: Das ist ein Hinweis, den wir sehr ernst nehmen. Wir werden im Gesetz klarstellen müssen, dass die Anforderungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowohl budgetär als auch ganz zentral im Personalbereich ausreichend Berücksichtigung finden. Wir dürfen die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht ins Hintertreffen geraten lassen.

epd: Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass auch Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen individuell bestmöglich und in ihrem Lebensumfeld behandelt werden. Denken Sie, dieses Ziel wird mit dem neuen Gesetz erreicht?

Heidenblut: Es gibt den neuen Ansatz des Home-Treatments, bei dem Patienten statt in der Klinik zuhause behandelt werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt, aber auch da müssen wir nochmal nachschärfen: Wenn wir es wie geplant nur auf akute Fälle beziehen, dürfte es nicht den Erfolg haben, den wir erzielen wollen. Aber dieses Gesetz wird natürlich überhaupt nicht ausreichen, um die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention umfassend anzugehen.

epd: In vielen Ländern gibt es nationale Pläne, die Ziele für die Entwicklung der Psychiatrie vorgeben ...

Ich würde noch viel weitergehen und bald eine weitere Psychiatrie-Enquete beginnen. Die letzte hat vor über 40 Jahren zu einer positiven Entwicklung beigetragen. In Teilbereichen haben wir in den letzten Jahren jedoch auch Rückschritte erlebt, so bei der Wartezeit auf ambulante Psychotherapien. Wir müssen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie stark reduzieren und die gesamte Behandlung noch deutlicher an den Bedürfnissen der Patienten ausrichten. Mein wichtigstes und zentrales Thema ist die Überwindung der Sektorengrenzen: Wir dürfen Patienten nicht danach kategorisieren, ob sie stationär oder ambulant zu behandeln sind oder zur Eingliederungshilfe gehören sollen. Wir müssen dazu kommen, dass die Behandlung möglichst bruchlos läuft. Das ist für mich die zentrale Herausforderung.

epd: Wie wollen Sie dies erreichen?

Heidenblut: Wir brauchen entsprechende Ziele und Meilensteine. Das aktuelle Gesetz gibt eine gute Grundlage hierfür, aber alleine reicht es nicht aus. Wir sollten sehr schnell weitere Schritte gehen. Hierfür müssen wir eine politische Mehrheit finden, die bereit ist, sich dem Thema insgesamt anzunehmen. Zusammen mit den Beteiligten müssen wir Wege finden, bestehende Barrieren abzubauen. Dass es nicht einfach wird, ist klar. Daher bedarf es eines gemeinsamen, nationalen Vorgehens.


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