sozial-Politik

Interview

Forscher: Die Parteien verfestigen die soziale Ungleichheit




Elmar Wiesendahl
epd-bild / Stephan Wallocha
Sie wollen für soziale Gerechtigkeit sorgen, das nehmen alle Parteien für sich in Anspruch. Tatsächlich verfestigten die Parteien in Deutschland die soziale Ungleichheit, kritisiert der Parteienforscher Elmar Wiesendahl im Interview.

Die politischen Parteien müssen aufhören, ausschließlich auf die bessergestellte Mittelschicht zu zielen, fordert Elmar Wiesendahl. Und die Abgehängten müssten sich selbst mobilisieren und politisch aktiv werden. Wiesendahl lehrte Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr in München und gehört nun zum Team der Agentur für politische Strategie (APOS) in Hamburg. Vor kurzem ist sein Buch "Parteien und soziale Ungleichheit" zum Thema erschienen. Mit ihm sprach Matthias Klein.

epd sozial: Herr Wiesendahl, inwiefern spiegeln Parteien soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft wider?

Elmar Wiesendahl: Wir erleben in Deutschland eine Rückkehr zu mehr sozialer Ungleichheit. Nach den goldenen Jahrzehnten des Wirtschaftswunders folgte in den 1980er Jahren ein epochaler Wandel, Massenarbeitslosigkeit entstand. Inzwischen hat sich diese Entwicklung durch die Globalisierung und den Aufstieg des Finanzkapitalismus verschärft. Die Ungleichheit steigt an. Ein Viertel der Bevölkerung ist abgehängt. Die Parteien spiegeln das aber nicht wider.

epd: Was heißt das? Machen sie es nicht zum Thema?

Wiesendahl: Doch, die Parteien greifen die soziale Ungleichheit unter dem Schlagwort der sozialen Gerechtigkeit schon auf. Aber die Debatte darüber ist sehr abstrakt - sie erreicht gar nicht die Prekarisierten. Die etablierten Parteien müssten zunächst eingestehen, dass ihre Politik für die wachsende Ungleichheit verantwortlich ist. Auch die Globalisierung ist eine Folge politischer Entscheidungen. Die Parteien betonten in den vergangenen Jahren aber stets ihre Hilflosigkeit. Und die Regierungen betrieben eine immer weiter spaltende Politik, die SPD zum Beispiel mit den Reformen der Agenda 2010. Das alles hat zu einem Mentalitätswechsel geführt: Das alte Verständnis von einer solidarischen Gesellschaft ist hinfällig. Und es ist eine neue Unterklasse entstanden, die die Politik nicht mehr erreicht.

epd: Woran liegt das?

Wiesendahl: Die Distanz zwischen den Abgehängten und den Parteien hat mehrere Gründe. Die Sicht auf das Repräsentationsverhältnis zwischen den Parteien und den Wählern hat sich grundlegend gewandelt. Heute sehen sich die etablierten Parteien nicht mehr als Vertreter eines Milieus. Sie orientieren sich stattdessen an der Mittelschicht, weil dort angeblich die Mehrheit der Stimmen zu holen ist. Man kann zugespitzt sagen: Alle Parteien zielen auf denselben Wähler, den sie für sich gewinnen wollen. Außerdem haben wir es mit Mittelschicht-Parteien zu tun. Die Mitglieder und erst recht die Führungspersonen stammen zur übergroßen Mehrheit aus der bessergestellten Mittelschicht - und das in allen Parteien, auch der Linkspartei. Ein weiterer Faktor ist das Verhalten der abgehängten Menschen. Sie geraten in einen Teufelskreis aus sozialem Abstieg und sozialer Isolation. Sie schließen sich selbst aus, sie engagieren sich nicht politisch und gehen noch nicht einmal wählen. Sie leben in einer Parallelwelt.

epd: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die AfD?

Wiesendahl: Kennzeichnend für viele Abgehängte ist das Gefühl, ohnmächtig zu sein. Die AfD gibt ähnlich wie der neue US-Präsident Donald Trump diesem Gefühl ein Ventil. Die Prekarisierten können damit ihren Protest ausdrücken. Die ökonomischen Interessen der Abgehängten vertritt die AfD aber nicht.

epd: Warum bringt die Linkspartei das nicht zum Ausdruck?

Wiesendahl: Hier ist es zu einer Entfremdung gekommen. Die alte Linke kreiste wirklich um die soziale Frage. Die neue Linke ist stark libertär ausgerichtet, sie kümmert sich eher um die Gleichstellung von Minderheiten. Gerade diese kulturelle Öffnung wollen viele Abgehängte aber nicht. Sie sehen ihre Rettung vielmehr in einer Abschottung.

epd: Geht das bis hin zu Ausländerfeindlichkeit?

Wiesendahl: Ja, und das ist hochgefährlich. Viele Abgehängte glauben, eine Re-Nationalisierung sei das Heilmittel. Die Konsequenz ist der Erfolg des Populismus, wie wir ihn momentan in Gestalt der AfD erleben.

epd: Was sollten die etablierten Parteien aus Ihrer Sicht tun?

Wiesendahl: Momentan verfestigen die Parteien die soziale Ungleichheit. Sie haben alle viel zu sehr die Interessen der Bessergestellten im Fokus. Es ist eine halbierte Demokratie entstanden: Die eine Hälfte der Gesellschaft vertritt ihre Interessen und ist durch Repräsentanten vertreten. Die andere Hälfte ist abgehängt. Die Parteien müssten aufhören, allesamt ausschließlich auf die bessergestellte Mittelschicht zu zielen. Aber das ist unrealistisch: Sie vermuten ja, dass sie nur auf diese Weise die Mehrheit bei Wahlen gewinnen können.

epd: Liegt ein Teil der Verantwortung auch bei den Abgehängten, die sich nicht am politischen Prozess beteiligen?

Wiesendahl: Ja. Aus ihrer Mitte heraus müssten Gruppen entstehen, die ihre Probleme thematisieren. Mit anderen Worten: Sie müssten sich selbst für den politischen Kampf mobilisieren. Wenn sie sich weiter abschotten, droht der völlige Zerfall des Zusammenhalts der Gesellschaft.


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