sozial-Politik

Armuts- und Reichtumsbericht

Gastbeitrag

Besser als sein Vorgänger – aber immer noch kritikwürdig




Andreas Mayert
epd-bild/Sozialwissenschaftliches Institut der EKD

Als vor vier Jahren der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erschien, wurde kaum über die darin beschriebene Entwicklung der Lebenslagen in Deutschland diskutiert. Im Zentrum des öffentlichen Interesses stand vielmehr, welche Entwicklung der Bericht selbst zwischen seiner Entwurfsfassung und der schließlich veröffentlichten Version durchgemacht hatte. Denn: Die damalige Bundesregierung hatte aus ihrer Kommentierung der unbestreitbaren Fakten einer zunehmender Armut und sozialen Ungleichheit in Deutschland all die rauen Ecken, Narben und Falten herausgestrichen, die mit dem übrigen Bild einer relativ positiven wirtschaftlichen Entwicklung nicht so recht in Einklang zu bringen waren.

Fakten offengelegt

Hieß es in der Entwurfsfassung beispielsweise: "Die insgesamt positive Entwicklung der Lebenslagen schlägt sich allerdings nicht bei der Armutsrisikoquote, der Niedriglohnquote und dem Vermögensaufbau der Menschen in Deutschland nieder. Hier bestehen weiterhin deutliche Ungleichheiten in den Lebenslagen", so wurde daraus in der veröffentlichten Version der damaligen Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU): "Bezogen auf die relativen Einkommens- und Armutsindikatoren wird die positive Entwicklung bislang noch nicht durchgehend sichtbar."

Im Vergleich dazu ist der nun veröffentlichte Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht ein Fortschritt. An vielen Stellen wird ausdrücklich benannt, dass Armut und Ungleichheit in Deutschland - ausgehend von einem bereits hohen Niveau - weiter zugenommen haben, der Bildungserfolg eines Kindes weiterhin stark von der sozialen Stellung der Eltern abhängt und die soziale Mobilität im Erwachsenenalter seit Jahrzehnten stagniert. Hinzu kommt, dass alle verwendeten Daten und Studien übersichtlich auf einer eigens angelegten Webseite verfügbar gemacht wurden. Mehr Transparenz geht in Bezug auf die Faktenlage nicht.

Eine plumpe Verfälschung der Daten war allerdings noch nie etwas, das man dem Armuts- und Reichtumsbericht hätte vorwerfen können. Interessant war hingegen stets, welchen Weg die jeweilige Bundesregierung wählt, mit unschönen Fakten umzugehen, die eine – wie Hannah Arendt es in ihrem zurzeit wieder hochaktuellen Essay "Wahrheit und Politik" beschrieben hat – aus Sicht der Regierenden unwillkommene Eigenschaft "ärgerlicher Hartnäckigkeit" besitzen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, liefert auch der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht trotz aller Verbesserungen Anlass zu Kritik.

Negatives tief vergraben

Statt negative Entwicklungen schönzureden, hat man diesmal zwei andere Wege gewählt, sie dem oberflächlichen Blick des Betrachters zu entziehen. Zum einen werden sie – bewusst oder unbewusst – in einem Konvolut von Daten und technischen Erläuterungen so tief vergraben, dass nur mit der Geduld von Heiligen ausgestattete Leser auf sie stoßen. Zum anderen werden negative Entwicklungen an vielen Stellen zwar in den Raum gestellt, doch wird auch der geduldige Leser meist vergeblich nach schlüssigen Ansatzpunkten suchen, wie die Bundesregierung künftig mit ihnen umzugehen gedenkt.

Das beste Beispiel für den ersten der beiden beschriebenen Wege liefert der Umgang mit der Tatsache, dass in Deutschland zwar seit einigen Jahren eine deutlich sinkende Arbeitslosigkeit, eine Zunahme der durchschnittlichen Realeinkommen und eine ebenso ausgeprägte wie erfreuliche Bildungsexpansion zu beobachten sind, Armut und soziale Ungleichheit aber dennoch weiter zugenommen haben. Man sollte glauben, dass diese besorgniserregenden Fakten im Zentrum von Analysen und angedachten politischen Maßnahmen zur Überwindung einer für den gesellschaftlichen Zusammenhalt höchst ungesunden Entwicklung stehen. Die Berichterstattung beschränkt sich jedoch darauf, die Fakten irgendwo einmal kurz zu erwähnen und Zusammenhänge auszuklammern.

So wird an einer Stelle des Berichts zwar klar und deutlich herausgestellt, dass in den letzten Jahren die mittleren Einkommen in Deutschland gewachsen sind, während die unteren Einkommensgruppen stagnierende oder sogar schrumpfende Einkommen hinnehmen mussten. Dieser für die Entwicklung der Armutsrisikoquote entscheidende Zusammenhang wird jedoch in einigen wenigen Zeilen des über 600 Seiten starken Berichts abgehandelt, als handele es sich dabei um eine Petitesse, die mit der Armutsrisikoquote bestenfalls in losem Zusammenhang steht.

Bundesregierung schämt sich

An einer völlig anderen Stelle des Berichts stößt man dann auf die Information, dass in Deutschland das Einkommen von über zehn Prozent der Arbeitnehmer auch unter Berücksichtigung von Sozialtransfers unter die Armutsrisikoschwelle fällt. Eine Problematisierung dieses Sachverhalts sucht man jedoch ebenso vergeblich wie eine Verbindung mit der Tatsache, dass beinahe ein Viertel der deutschen Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor tätig ist. Ist es angesichts eines so undurchsichtigen Umgangs mit den Ursachen von Armut und Ungleichheit eine Überraschung, dass immer mehr Menschen ihre prekäre Situation schlicht auf die Globalisierung oder ähnlich abstrakte Entwicklungen zurückführen? Wenn die Bundesregierung im Armuts- und Reichtumsbericht die negativen Folgen einer Arbeitsmarktpolitik verschämt verschweigt, die seit über einem Jahrzehnt auf eine Deregulierung prekärer Beschäftigungsformen, auf eine Aufweichung des Tarifrechts und den auf Arbeitslose ausgeübten Zwang zur Aufnahme jedweder Beschäftigung setzt, dann darf sie sich nicht wundern, wenn Menschen möglichst einfache Zusammenhänge konstruieren und "Eliten" oder dem Welthandel unreflektiert die Schuld für ihre missliche Lage geben.

Das beste Beispiel für den zweiten der oben genannten Wege, also für das simple in den Raum Stellen expliziter Ursachen von Ungleichheit ohne Beschreibung schlüssiger Gegenmaßnahmen, bietet der Umgang mit der Tatsache, dass Bildungschancen in Deutschland besonders stark vom sozialen Status der Eltern abhängen. Im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht wird an unzähligen Stellen mantrahaft beschworen, dass der beste Weg zur Überwindung von Armut gute Bildung und eine dem Bildungsabschluss entsprechende Beschäftigung ist – was unbestreitbar zutrifft. Nur ist der wiederholte Hinweis auf diesen offensichtlichen Zusammenhang beinahe zynisch, wenn es gute Gründe gibt daran zu zweifeln, dass alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen auf eine ihren Talenten entsprechende gute Ausbildung besitzen.

Denn der Armuts- und Reichtumsbericht beschreibt in dankeswerter Eindeutigkeit, dass die Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland nicht monokausal auf die ungleiche Förderung im Elternhaus zurückgeführt werden kann. Vielmehr weist er beispielsweise darauf hin, "dass sich unter Berücksichtigung der Leistungen der Viertklässlerinnen und Viertklässler unterschiedliche Chancen auf eine Gymnasialpräferenz durch die Lehrkraft in Abhängigkeit von der sozialen Lage feststellen lassen". Mit anderen Worten ausgedrückt, lässt sich bei den Schulempfehlungen der Lehrkräfte beim Übergang in die Sekundarstufe I eine offensichtliche Diskriminierung nach sozialem Status der Schüler und Schülerinnen bzw. ihrer Eltern erkennen. Wenn die Bundesregierung ihre Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen sozial Benachteiligter beschreibt, geht sie auf diesen im Grunde skandalösen Umstand nicht mit einem einzigen Wort ein.

Nötig ist ein unabhängiger Bericht

Als Fazit muss man daher festhalten, dass die Armuts- und Berichterstattung der Bundesregierung weiterhin davon geprägt ist, unvorteilhafte Entwicklungen zu vernachlässigen, statt hier Chancen zu suchen und zu beschreiben, Deutschland nicht nur sozial gerechter zu machen, sondern im Rahmen des rasanten technologischen Fortschritts so aufzustellen, dass Talente gefördert und genutzt werden, so dass niemand das Gefühl haben muss, von diesen Veränderungen erdrückt, überfordert oder übervorteilt zu werden. Gerade vor dem Hintergrund des immer stärker werdenden Populismus sollten Armuts- und Reichtumsberichte in dieser Hinsicht weiterentwickelt werden.

Vermutlich kann das aber nur gelingen, wenn die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der politischen Einflussnahme auf Inhalte und Formulierungen entzogen wird. Gesellschaftliche Ungleichheit, Chancengerechtigkeit sowie die Verteilung und Ursachen von Armut und Reichtum in der Bevölkerung sind entscheidende Faktoren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Legitimation des deutschen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells. Sie verdienen daher eine politisch unabhängige Berichterstattung. Wohl erst dann werden die Analysen und Verbesserungsvorschläge der Armuts- und Reichtumsberichterstattung im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen und nicht die an einer guten Selbstdarstellung interessierte Kommentierung der jeweiligen Regierung.

Andreas Mayert, Sozialwissenschaftler und Diplom-Volkswirt beim Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD

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