sozial-Branche

Asyl

Flüchtlingskinder sind in der Familie oft die heimlichen Erwachsenen




Fatima Shawkat und Sindibad Ahmad Shawkat
epd-bild/Winfried Rothermel
Viele Flüchtlingskinder haben Schlimmes erlebt, in ihrer neuen Heimat Deutschland müssen sie zudem Verantwortung für ihre Eltern tragen. Das verändert ihr Leben und das ihrer Familie.

Gerade einmal 13 Jahre ist Fatima Shawkat alt. Wenn sie die Geschichte ihrer Flucht in gutem Deutsch erzählt, dann gibt es einen Moment, in dem ihrem Zuhörer der Atem stockt. "Sie haben uns in der Kälte warten lassen - so lange, dass mein kleiner Bruder schon blau anlief. Irgendwann kam ein Laster, endlich, und hat uns abgeholt. Auf der Außenseite war ein Stück Fleisch angeklebt, drinnen war es eng und kalt." Nach einigen Stunden wurde sie benommen, konnte nicht mehr richtig atmen. Wenig später war die Fahrt zu Ende: die Familie in Deutschland. In Sicherheit.

Auf einmal ist alles anders

Man weiß, dass es hätte anders enden können: Mehrere tausend Menschen ertrinken jedes Jahr auf der der Flucht nach Deutschland, ersticken oder kommen schon in ihrem Heimatland zu Tode. Was aber geschieht mit jenen, die es geschafft haben - wie Fatima Shawkat, ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Geschwistern? Sie führen ein Leben in Sicherheit, natürlich. Und genau das kann zur Herausforderung werden: Weil im Zufluchtsland auf einmal alles so anders ist, als man es jahrelang gekannt hat.

Die fünfköpfige Familie aus dem Nordirak lebt in zwei kleinen Zimmern in einem Wohncontainer in Freiburg, die Mutter besucht einen Deutschkurs, für den Vater gibt es noch kein Kursangebot - zwei geflüchtete Journalisten aus Mossul, die hier zu Wartenden geworden sind. "Wenn wir einen Behördentermin haben, muss Fatima immer mitkommen. Wir brauchen sie zum Übersetzen. Ohne sie verstehen wir nichts", sagt Vater Sindibad. Nicht einmal ein Brot beim Bäcker würden sie ohne die Hilfe ihrer Tochter bekommen, sagen sie.

Die im deutschen Alltag oftmals hilflosen Eltern meisterten das gefährliche Leben in Mossul so gut sie konnten. "In meiner Zeit als Reporter hat es vier Anschläge auf mich gegeben. Unter anderem mit einer Kalaschnikow und einer Bombe unter meinem Auto, die nicht explodiert ist." Was Sindibad Ahmad Shawkat (40) über sein Leben im Nordirak zu erzählen hat, das hat mit Gewalt zu tun und mit Drohungen. "Zur Schule haben uns unsere Eltern immer begleitet. Und nachmittags sind wir so selten wie möglich nach draußen gegangen", sagt Tochter Fatima über diese Zeit. 2014 ist die Familie geflohen, im Jahr darauf kam sie in Deutschland an.

Plötzlich ein "erwachsenes Kind"

Auf dem Handy ihrer Mutter Zeena Alkashab Shawkat (37) sind Familienfotos gespeichert: Sie zeigen Zeena mit Kopftuch und Mikrofon oder die Töchter der Familie, wie sie fröhlich und ausgelassen in einer Brache baden. "Das war nach unserer Ankunft an der griechischen Küste." Mit dem Schlauchboot.

Fatimas neue Rolle ist typisch für eine Flüchtlingsfamilie, die sich in einem fremden Land orientieren muss. Das geht jedenfalls aus einer Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef hervor, die die Situation solcher Menschen in Deutschland untersucht hat: Viele Flüchtlingskinder seien im Kontext ihrer Familie "erwachsene Kinder", heißt es da. Sie müssten vielfach Aufgaben übernehmen, für die ein Kind eigentlich nicht reif genug sei.

Ihr schneller Spracherwerb weise Kindern automatisch die Rolle des Dolmetschers zu. Dadurch müssten sie sich schnell mit existenziell wichtigen Themen auseinandersetzen. "Das schnellere Ankommen der Kinder kann zu einer sehr ungleichen Entwicklung innerhalb der Familie führen", heißt es in der Studie.

Sindibad und Zeena Shawkat ist das Dilemma ihrer Kinder bewusst - allein, sie können es nicht ändern. Den Traum, einmal wieder als Reporter arbeiten zu können, haben beide. Aber ohne Sprachkenntnisse sind sie noch weit davon entfernt. Immerhin: Auch wenn Fatima an einer Stelle etwas von ihrer Kindheit aufgeben musste - an einer anderen hat sie etwas davon zurückgewonnen: "Ich kann in Freiburg unterwegs sein, wie ich will, und es droht keine Gefahr. Das ist ganz neu für mich", sagt die 13-Jährige.

Sebastian Stoll

« Zurück zur vorherigen Seite


Weitere Themen

Neue App zeigt Straßenkindern Hilfseinrichtungen

Eine neue App führt Straßenkinder in Deutschland zu Hilfsangeboten in ihrer Nähe. "Mokli" verzeichne über 3.000 Hilfseinrichtungen in ganz Deutschland und zeige sie auf einer interaktiven Karte an, teilte der Verein Karuna, der die App entwickelt hat, am 28. Februar in Berlin mit. Die Anwendung verzeichne die Adress- und Kontaktdaten der verschiedenen Einrichtungen und sei in Deutsch, Englisch, Arabisch und Polnisch verfügbar. Auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen soll "Mokli" Orientierung bieten.

» Hier weiterlesen

Informationen zur außergerichtlichen Streitschlichtung

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) hat eine Broschüre herausgegeben, die die Konfliktlösung in Pflegeeinrichtungen zum Inhalt hat. Erarbeitet wurde der Ratgeber von Iris Anagnostopoulou und Ulrike Kempchen, erfahrene Juristinnen im Beratungsdienst der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA), die die Publikation "Konflikte im Heim? – Verbraucherschlichtung als Chance" unterstützt hat.

» Hier weiterlesen

Patient Pflegeausbildung

Seit mehr als einem Jahr streitet die Koalition über einen Gesetzentwurf zur gemeinsamen Ausbildung von Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflegern. In der kommenden Woche soll der Koalitionsausschuss über das Thema beraten.

» Hier weiterlesen