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Flüchtlinge

"Gesundheitsversorgung von Menschen in der Illegalität bleibt prekär"




Marie von Manteuffel
epd-bild / Katholisches Forum Leben in der Illegalität
Das Katholische Forum Leben in der Illegalität wurde 2004 gegründet. Das Bündnis, dem unter anderem die Deutsche Bischofskonferenz und der Caritasverband angehören, kritisiert die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere. Kein Randproblem: Nach Schätzungen leben in Deutschland bis zu 500.000 Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus.

Die medizinische Versorgung der Betroffenen bleibe trotz kleiner Fortschritte in der Vergangenheit weiter prekär, sagt Geschäftsführerin Marie von Manteuffel im Interview. Viele dieser Menschen mieden auch im Fall der Krankheit Ärzte und Kliniken aus Angst vor der drohenden Abschiebung. Von Manteuffel fordert deshalb im Gespräch mit Dirk Baas, die Übermittlungspflichten an die Ausländerbehörden deutlich einzuschränken.

epd sozial: Die mangelhafte medizinische Versorgung von Menschen in der Illegalität wird von Sozialverbänden seit Jahren beklagt. Wie viele Personen ohne Papiere halten sich derzeit in Deutschland auf?

Marie von Manteuffel: Die genaue Zahl der betroffenen Menschen ist natürlich kaum zu bestimmen. Allerdings gibt es wissenschaftlichen Schätzungen von der Universität Bremen aus dem Jahr 2015, die von einer Zahl zwischen 200.000 und 500.000 Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität ausgehen. Diese Zahl könnte in den vergangenen zwei Jahren leicht gestiegen sein. Neue Schätzungen der Universität Bremen wird es voraussichtlich im Sommer dieses Jahres geben.

epd: Warum tut sich die Politik so schwer, weitere wirksame Reformen anzugehen, um auch diesen Menschen zu helfen? Eine reine Kostenfrage sollte das ja nicht sein.

Marie von Manteuffel: Das Themenfeld steht insgesamt im Spannungsverhältnis zwischen dem legitimen Interesse des Staates an der Durchsetzung ausländerrechtlicher Bestimmungen einerseits und der Wahrung der universell geltenden Menschenrechte jedes Einzelnen andererseits. In den vergangenen Jahren gab es vereinzelt positive Entwicklungen. So wurde insbesondere der Zugang zu öffentlichen Grundschulen ermöglicht. In vielen Fällen scheitern solche gesetzlichen Verbesserungen allerdings an der Umsetzung in der Praxis. In anderen Lebensbereichen wiederum scheitert die Verwirklichung der Menschenrechte an rechtlichen Zugangsbarrieren. Damit bleibt die Situation von Menschen "ohne Papiere" in Deutschland insgesamt weiterhin prekär.

epd: Ihr Forum will die ärztliche Hilfe verbessern. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten aber auch Flüchtlinge zunächst nur die medizinische Grundversorgung. Aber ist die nicht auch unzureichend?

Marie von Manteuffel: Selbstverständlich wäre ganz grundsätzlich eine medizinische Versorgung wünschenswert, die über den sehr eingeschränkten Leistungskatalog des Asylbewerberleistungsgesetzes hinausgeht. Allerdings bleibt für Menschen "ohne Papiere" nach aktueller Rechtslage selbst die medizinische Grundversorgung de facto verschlossen.

epd: Wie erklärt sich das?

Marie von Manteuffel: Die Sozialämter sind dazu verpflichtet, personenbezogene Daten der Patienten "ohne Papiere" an die Ausländerbehörde zu übermitteln, was wiederum die konkrete Gefahr der Abschiebung mit sich bringt. Unser Anliegen, zumindest sicherzustellen, dass die medizinische Grundversorgung sanktionslos in Anspruch genommen werden kann, muss daher als umso dringlicher bewertet werden.

epd: Die Rechtslage ist eindeutig, das Menschenrecht auf Gesundheit ist allgemein anerkannt, auch der UN-Sozialpakt verpflichtet Deutschland, medizinische Versorgung für alle Menschen zu gewährleisten. Macht es Sinn, dass einzelne Betroffene oder Flüchtlingsverbände gegen die Missstände vor Gericht klagen?

Marie von Manteuffel: Flüchtlingsverbände verfügen über kein sogenanntes Verbandsklagerecht und können die Rechte Einzelner nicht stellvertretend einklagen. Einzelne Betroffene hingegen werden bereits wegen der großen Gefahr der Offenlegung ihrer Identität und anschließender Abschiebung den Gang vor Gericht scheuen. Damit liegt es an Initiativen wie dem Katholischen Forum Leben in der Illegalität, sich gegenüber den Verantwortungsträgern in der Politik für eine Verbesserung der Lebenssituation von Menschen "ohne Papiere" einzusetzen.

epd: Die umstrittene Übermittlungspflicht wurde für Schulen und Bildungseinrichtungen 2011 aufgehoben. Kann diese Regelung Paten stehen für weitere Ausnahmen für die Behörden?

Marie von Manteuffel: Diese Gesetzesänderung war sicher ein großer Fortschritt und skizziert einen von verschiedenen denkbaren Wegen zur Sicherung der Gesundheitsversorgung für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität. Doch im Falle des Zugangs zu schulischer Bildung ergibt sich als Folgeproblem, dass die Gesetzgebungskompetenz im Zuständigkeitsbereich der Länder liegt.

epd: Und das bedeutet, dass es an einheitlichen Vorgaben fehlt ...

Marie von Manteuffel: Ja, die landesrechtlichen Regelungen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Zudem hängt es in der Praxis von den kommunalen Vorgaben ab, ob ein Kind tatsächlich unabhängig von seinem Aufenthaltsstatus eine öffentliche Grundschule besuchen kann oder nicht. Eine Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aus dem Jahr 2015 kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder "ohne Papiere" aufgrund der unterschiedlichen landesrechtlichen und kommunalen Bestimmungen in etwa 62 Prozent der Fälle nicht eingeschult werden konnten.

epd: Nur bei Notfallbehandlung besteht der sogenannte "verlängerte Geheimnisschutz", das heißt, die Übermittlungspflicht etwa einer Klinik an die Ausländerbehörde greift nicht. Aber wer definiert, was ein Notfall ist. Welche Probleme beobachten Sie in der Praxis?

Marie von Manteuffel: Ein Notfall liegt immer dann vor, wenn die medizinische Hilfe so akut benötigt wird, dass aufgrund der Schwere der Erkrankung oder der Dringlichkeit der Behandlung nicht zuvor die Kostenübernahme beim Sozialamt beantragt werden kann. Beispiele sind Schlaganfälle, Herzinfarkte, Unfälle oder akut einsetzende Schmerzen. Ob ein Notfall vorliegt, muss daher zwingend vom behandelnden Arzt entschieden werden.

epd: Funktioniert das?

Marie von Manteuffel: Leider beobachten wir in der Praxis immer wieder, dass die spätere Kostenübernahme von einzelnen Sozialämtern entgegen der ärztlichen Diagnose verweigert wird. Das führt wiederum dazu, dass einige Krankenhäuser selbst in Notfällen die Behandlung verweigern, weil sie nicht mit der anschließenden Kostenübernahme durch das zuständige Sozialamt rechnen können.

epd: Sie sagen, der ganz überwiegende Grund dafür, dass Illegale Ärzte und Kliniken meiden, sei die Angst davor, an die Ausländerbehörden gemeldet und womöglich abgeschoben zu werden. Welche Rechtsreformen schlagen Sie vor, um Anzeigen an die Behörden zu verhindern?

Marie von Manteuffel: Wir fordern, diejenigen öffentlichen Stellen von der allgemeinen Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörden auszunehmen, die mit der Abwicklung sozialrechtlicher Leistungen im Bereich der Gesundheitsversorgung befasst sind. In der Praxis zeigt sich darüber hinaus, dass einzelne Sozialämter immer wieder sogar in solchen Fällen Informationen an die Ausländerbehörde weitergeben, in denen es keine Übermittlungspflicht gibt. Dies betrifft vor allem die Kostenerstattung für ein Notfallbehandlung durch ein Krankenhaus. Hier ist gesetzlich klarzustellen, dass die von der Übermittlungspflicht ausgenommenen öffentlichen Stellen die Daten auch nicht freiwillig an die Ausländerbehörden übermitteln dürfen.

epd: „Verlängerter Geheimnisschutz“ gilt auch nicht bei der Schwangerschaftsvorsorge. Sie fordern auch hier, für Rechtssicherheit zu sorgen. Wie könnte das geschehen?

Marie von Manteuffel: Auch hinsichtlich der Schwangerschaftsvorsorge fordern wir, die Sozialämter von der Pflicht zu befreien, personenbezogene Daten an die Ausländerbehörden zu übermitteln. Dadurch würde es ermöglicht, Schwangerschaften gynäkologisch zu begleiten, ohne dass die betroffenen Frauen aus Angst vor späterer Abschiebung den Gang zum Sozialamt vermeiden. Durch frühzeitige Vorsorge können Risikoschwangerschaften erkannt und spätere Komplikationen vermieden werden.

epd: Noch schließen meist freiwillige Akteure aus Kirchen, Wohlfahrt und Zivilgesellschaft die Lücken in der medizinischen Versorgung. Sie sagen, das könne kein dauerhafter Zustand.

Marie von Manteuffel: Die Sicherung eines umfassenden und in der Praxis zugänglichen Gesundheitswesens gehört zu den zentralen verfassungsrechtlichen Aufgaben des Sozialstaats. Zudem hat sich die Bundesrepublik Deutschland auch völkerrechtlich zur Umsetzung gewisser menschenrechtlicher Standards verpflichtet. Diese Verpflichtung ist weder an die Staatsangehörigkeit geknüpft, noch hängt sie vom Aufenthaltsstatus des Einzelnen ab. Kirchliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen leisten seit Jahren Bemerkenswertes. Ärzte behandeln Patienten, ohne dass sie dafür ein Honorar erhalten. Medikamente werden durch Spenden finanziert. Bei allem persönlichen Einsatz wird allerdings auch offenbar, dass ein solches Engagement die real bestehende Not nur zu einem Teil lindern kann. Für eine nachhaltige Lösung der Problematik bleibt der Staat in der Pflicht.

Marie von Manteuffel ist Geschäftsführerin des Katholischen Forums Leben in der Illegalität

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