Ausgabe 18/2017 - 05.05.2017
Frankfurt a.M. (epd). Anatomisch ist der Begriff Jungfernhäutchen falsch: "Es gibt kein Häutchen", sagt die Berliner Frauenärztin Jutta Pliefke. Das sogenannte Hymen ist ein Kranz aus elastischem Gewebe in der weiblichen Vagina, der individuell sehr unterschiedlich aussieht - manchmal kaum vorhanden ist, manchmal zerfasert oder halbmondförmig und unterschiedlich fest.
"Es ist eben keine geschlossene Membran, auch wenn dieser Glaube weit verbreitet ist", sagt auch die Oberhausener Gynäkologin Christine Gathmann. Sonst würde sich schließlich auch das Menstruationsblut aufstauen. Entsprechend bluten viele Frauen auch nicht beim ersten Geschlechtsverkehr, etwa die Hälfte oder noch mehr, zeigen verschiedene Befragungen. Beide Frauenärztinnen beraten bei Pro Familia und begegnen immer wieder falschen Mythen von Jungfräulichkeit.
"Niemand kann sehen, ob eine Frau schon Geschlechtsverkehr hatte", sagt Gathmann. "Es gibt keinen medizinischen Beweis für Jungfräulichkeit." Der Mythos halte sich aber hartnäckig, erleben beide. Denn sie beraten immer wieder Frauen, die ihre Jungfräulichkeit operativ wiederherstellen wollen oder in großer Angst vor ihrer Hochzeitsnacht sind, in der sie Blut auf dem Laken vorzeigen müssen - als Beweis.
Betroffen sind laut Gathmann häufig muslimische Frauen, darunter auch viele, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei oder arabischen Ländern kamen und die in Deutschland aufgewachsen sind. Den patriarchalen - von der Herrschaft der männlichen Familienoberhäupter ausgehenden - Ehrbegriff dahinter gibt es weltweit in verschiedenen Kulturen unabhängig von der Religion, er sei auch in südeuropäischen und südamerikanischen Ländern verbreitet.
Die Ehre der Familie hängt auch an der Jungfräulichkeit der Frauen und Töchter vor der Ehe - und wird auch mit Gewalt verteidigt. "Und dieser Blutfleck wird sicherlich seit Jahrhunderten gefälscht", sagt Frauenärztin Gathmann. Auch damit bleibe die falsche Vorstellung von Jungfräulichkeit natürlich erhalten, die Frauen immer wieder in Gefahr bringt.
Allerdings fürchten die Frauen, die sich zu Jungfräulichkeits-OPs beraten lassen, akute Folgen: das Ende ihrer Beziehung, Rufmord, den Verlust der Familie - im schlimmsten Fall Ehrenmord. Weil sie eben doch Sex hatten. In Beratungspraxen tauchen dabei auch Frauen auf, die Opfer von Vergewaltigung und Missbrauch wurden - die "Entehrten" sind dennoch sie und sorgen sich deshalb um ihr Jungfernhäutchen.
Weiteres Feld der Doppelmoral: Analverkehr sei gerade in Kulturen mit Jungfräulichkeitsbeweis vor der Ehe nicht selten und auch Thema in Beratungen. "Auch hier zeigt sich eine seltsame Vorstellung von Jungfräulichkeit", sagt Gathmann. "Statt sexuelle Enthaltsamkeit macht demnach ein Häutchen, das bluten soll, zur Jungfrau."
Auch eine Operation kann Blut nicht garantieren. Bei ihr wird das Gewebe so vernäht, dass eine Verletzung beim Sex wahrscheinlicher wird - Erfolg ist ungewiss. Eine Studie der Universität Amsterdam zeigt sogar, dass die meisten operierten Frauen beim ersten ehelichen Geschlechtsverkehr nicht bluteten. Und: Dass sich 75 Prozent aller Frauen, die über ihre individuelle Situation und anatomische Fakten und Mythen aufgeklärt sind, gegen den Eingriff entscheiden.
"Die OP ist medizinisch nicht sinnvoll, zwar ein kleiner Eingriff, aber eine Operation und damit mit Risiken und Schmerzen verbunden", sagt Frauenärztin Pliefke. "Wir hoffen immer, dass sie sich nicht dafür entscheiden." Der Eingriff ist auch ein ethisches Dilemma für Ärzte. Die werbenden Angebote im Netz zeigten aber auch, dass Geschäftemacher die Not der Mädchen für sich nutzen, "die sich sicherlich auch nicht im Nachhinein über schlechte Behandlung beschweren und bar zahlen, um alles heimlich zu halten".