sozial-Branche

Pflege

Interview

"Teilhabeorientierte Betreuung ist nicht leistbar"




Wilfried Wesemann
epd-bild/foto-sicht/Frederic Schweizer
Noch vorhandene Fähigkeiten von Pflegebedürftigen zu fördern, ist angesichts der Personalnot in den Einrichtungen fast unmöglich. Wilfried Wesemann, Geschäftsführer beim Evangelischen Johannesstift in Berlin, fordert deshalb für die Branche mehr Fachpersonal.

Am internationalen "Tag der Pflege" macht die Diakonie mit bundesweiten Veranstaltungen auf die Zeitnot der Pflegefachkräfte aufmerksam. Wilfried Wiesemann, beim diakonischen Johannesstift in Berlin für die Altenhilfe verantwortlich, sagt: "Wir müssen unseren Beschäftigten den Rücken stärken." Mit ihm sprach Markus Jantzer.

epd sozial: Der internationale "Tag der Pflege" am 12. Mai hat Jubiläum: Er wird in diesem Jahr zum 50. Mal weltweit veranstaltet. Ein stolzer Jahrestag. Was hat der 50-fache Protesttag weltweit und in Deutschland bewirkt?

Wilfried Wesemann: Der 12. Mai ist der Tag der Pflegenden und wird zu Ehren von Florence Nightingale begangen. Dieser Tag gibt uns die Gelegenheit, auf aktuelle Themen der Pflege aufmerksam zu machen und gleichzeitig aktiv für die Berufe in der Pflege zu werben.

epd: In diesem Jahr nimmt die Diakonie den Pflegetag zum Anlass, um auf den enormen Zeitdruck hinzuweisen, unter dem Pflegefachkräfte ihre Arbeit machen. Sie klagen seit Jahren über die sogenannte Satt-und-sauber-Pflege, die ihnen nicht ausreichend Zeit lasse, sich den pflegebedürftigen Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zuzuwenden. Wie stellt sich die Zeitnot im Alltag dar konkret dar?

Wesemann: Die Verweildauer in den Heimen hat sich in den letzten Jahren zunehmend verkürzt, weil die älteren Menschen mit Assistenzbedarf erst sehr spät, wenn die Versorgung zu Hause nicht mehr möglich ist, in das Heim umziehen. Untersuchungen zeigen, dass innerhalb des ersten Jahres nach Heimaufnahme 40 bis 45 Prozent der Bewohner sterben. Diese Zahl macht den hohen Bedarf an palliativer Pflege in den Heimen deutlich. Hinzu kommt ein hoher Anteil an Menschen mit einer demenziellen Erkrankung.

epd: Das hat Folgen für das Personal ...

Wesemann: Die Anforderungen an die Mitarbeitenden sind sehr hoch, in einer Schicht muss eine Pflegekraft etwa zehn Bewohnerinnen und Bewohner vollumfänglich betreuen. Dazu zählen die Grund- und Behandlungspflege und insbesondere die Unterstützung im Alltag. Teilhabeorientierte Pflege hat die Aufgabe, Assistenz zur selbstständigen Übernahme der Aktivitäten zu leisten und nicht von vornherein die vollständige Pflege zu übernehmen. Mit den derzeitigen Personalschlüsseln ist dieses Ziel nicht zu erreichen.

epd: Ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen müssen nach den rechtlichen Bestimmungen eine bestimmte Quote an Fachkräften beschäftigen. Warum schützen die gesetzlich vorgeschriebenen Personalschlüssel nicht vor unmenschlicher Minutenpflege?

Wesemann: Es fehlt an einer objektiven Grundlage zur Personalbemessung. Die Personalschlüssel orientieren sich nicht am tatsächlichen Pflegebedarf der Pflegebedürftigen. Im Rahmen der letzten Pflegereform hat der Gesetzgeber das Thema zunächst auf 2020 vertagt. Bis zu diesem Zeitpunkt soll eine in Auftrag zu gebende Studie Lösungsvorschläge aufzeigen. Das Problem wird noch durch länderbezogene Personalschlüssel verstärkt. So können zum Beispiel in einer Einrichtung mit 100 vollstationären Plätzen in Baden-Württemberg sieben Vollzeitstellen mehr als in Brandenburg besetzt werden.

epd: Demente Patienten, die ja mit rund 1,6 Millionen einen sehr großen Teil der Pflegefälle stellen, haben seit wenigen Jahren zusätzlich Anspruch auf Unterstützung durch Betreuungsassistenten. Hier zahlt hat der Gesetzgeber also Zeit für Zuwendung. Warum reicht Ihnen das nicht?

Wesemann: Die Betreuungsassistenten übernehmen eine wichtige Aufgabe in den Einrichtungen wahr und tragen zu einer Entlastung des Pflegepersonals bei. Die Altenpflege ist einmal mit dem Anspruch angetreten, sich nicht nur auf die körperliche Pflege zu beschränken, sondern auch Betreuung und die Tagesstrukturierung zu organisieren. Mit dieser Aufgabenverlagerung auf die Assistenten wird die Attraktivität des Berufs nicht gesteigert.

epd: Auch in den Krankenhäusern hat der Gesetzgeber mit dem Krankenhausstrukturgesetz die Finanzmittel erhöht, damit Kliniken mehr Pflegekräfte einstellen. Wie wirkt nach Ihrer Beobachtung das Gesetz?

Wesemann: Die Schere zwischen der Zunahme der Menschen mit Pflegebedarf und der Abnahme der professionellen Helfenden trifft die pflegerischen Berufe in einer besonderen Weise. Von daher müssen wir mehrere Handlungsoptionen in den Blick nehmen. Gesamtgesellschaftlich geht es um die Anerkennung der Pflegeberufe, die gerade in der Altenpflege eng mit dem "defizitären Altersbild" in unserer Gesellschaft verknüpft ist. Wir müssen unseren Mitarbeitenden den Rücken stärken, damit sie mit Überzeugung und trotz der schwierigen Rahmenbedingungen vermitteln können, dass ihnen die Arbeit mit und für ältere Menschen Spaß und Freude macht.

epd: Was muss die Pflegebranche über Appelle an Politik und Öffentlichkeit hinaus selbst tun, damit die Pflegelücke in Deutschland dauerhaft geschlossen wird?

Wesemann: Konkret arbeiten wir an Personalkonzepten, die sich an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen orientieren und sich an differenzierten Qualifikationsprofilen ausrichten. Neben einer fundierten generalistischen Pflegeausbildung benötigen wir weitere Qualifikationen im Bereich der Alltagsbegleitung und Pflege.

Darüber hinaus sind wir gefordert, für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen und alles zu unternehmen, dass mehr Zeit für die direkte Pflege am Menschen bleibt. Außerdem können die Einbeziehung von bürgerschaftlichem Engagement und der Einsatz von assistierender Technik und Unterstützungssystemen einen Beitrag leisten zur selbstständigen Lebensführung der Menschen mit Pflegebedarf und zur Entlastung des Pflegepersonals.


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