sozial-Politik

Behinderung

Nicht alle Menschen in Deutschland dürfen wählen




Ein Patientenbetreuer hilft in der diakonischen Einrichtung Friedehorst bei der Stimmabgabe. (Archivbild)
epd-bild/Alasdair Jardine
Menschen, die einen rechtlichen Betreuer in allen Angelegenheiten haben, und schuldunfähige Straftäter sind in Deutschland von der Wahl ausgeschlossen. Behindertenrechtsaktivisten fordern, diesen pauschalen Ausschluss aufzuheben.

Menschen mit Behinderung, die unter dauerhafter Vollbetreuung stehen, dürfen in Deutschland nicht wählen. Die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben diesen Wahlausschluss für ihre Landtags- und Kommunalwahlen im vergangenen Jahr abgeschafft. Berlin und Rheinland-Pfalz wollen nachziehen, teilte der Arbeitsstab der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit. Bei der Bundestagswahl dürfen Menschen in Vollbetreuung jedoch weiterhin nicht wählen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte bezeichnet dies als "hoch problematisch". Die Praxis widerspreche geltendem Menschenrecht.

Fast 85.000 Menschen durften 2015 laut Bundeswahlgesetz nicht wählen, geht aus einer Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hervor. 81.220 davon standen unter Vollbetreuung. Hinzu kamen 3.300 schuldunfähige Straftäter, die sich auf richterliche Anordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus befanden.

Steht eine Person unter dauerhafter Vollbetreuung, ist ein gesetzlicher Betreuer zur Regelung aller Angelegenheiten bestellt. Das Betreuungsgericht ordnet Betreuungen dann an, wenn Menschen aufgrund von psychischen Krankheiten oder Behinderungen ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können. Zu einer dauerhaften Vollbetreuung kommt es nur dann, wenn der Betroffene keinerlei rechtliche Angelegenheiten mehr selbstständig regeln kann. Dann wird ihm auch automatisch das Wahlrecht entzogen.

UN-Konvention garantiert politische Partizipation

Der Artikel 29 der UN-Behindertenkonvention, die in Deutschland seit 2009 gültig ist, garantiert das Recht auf politische Partizipation. Die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention weise seit 2011 immer wieder darauf hin, dass sowohl Menschen mit Betreuung als auch psychisch kranke Straftäter das Wahlrecht zugesprochen werden müsse, heißt es in dem Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland vom Institut für Menschenrechte, der 2016 vorgelegt wurde. Die Wahlrechtsausschlüsse stellten einen diskriminierenden und unverhältnismäßigen Eingriff in das menschenrechtlich garantierte Recht zu wählen dar, heißt es weiter.

Auch Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, fordert eine Abschaffung der pauschalen Wahlrechtsausschlüsse: "Es kann nicht sein, dass ein Mensch mit Betreuung ein Auto kaufen darf, aber nicht die Wahl hat, wer dieses Land regiert." Ihr Arbeitsstab lobte Projekte, die Menschen mit Behinderungen auf die Wahl vorbereiten. Dabei werden beispielsweise Informationen über die Parteien in Leichter Sprache verbreitet. Vor allem sei aber wichtig, dass Angehörige, Betreuer oder andere Bezugspersonen die Betroffenen in ihrer Wahlentscheidung unterstützten.

Acht Wahleinsprüche scheiterten

Nach der Bundestagswahl 2013 wurden acht Wahleinsprüche von erwachsenen Deutschen mit Behinderungen eingereicht, die die Gültigkeit der Bundestagswahl wegen der Wahlrechtsausschüsse anfochten. Diese Einsprüche wurden jedoch zurückgewiesen. Inzwischen liegt das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht.

Österreich, Italien, die Niederlande, Schweden, Großbritannien, Kroatien und Lettland, in denen ähnliche Wahlrechtsausschlüsse bestanden, lassen inzwischen alle Volljährigen zur Wahl zu, heißt es in dem Bericht des Instituts für Menschenrechte. Von Seiten der SPD, der Grünen und der Linkspartei habe es im Bundestag in der laufenden Legislaturperiode Bestrebungen gegeben, den Ausschluss von Wahlen abzuschaffen, teilte der Arbeitsstab der Behindertenbeauftragten mit.

Christina Spitzmüller

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