sozial-Politik

Arbeitslosigkeit

Interview

"Nur öffentliche Beschäftigung kann soziale Teilhabe sichern"




Matthias Knuth
epd-bild/bildwerkeins/Paul Walther
Ohne eine fundamentale Reform der Arbeitsmarktpolitik lasse sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht senken, sagt Professor Matthias Knuth im Interview. Man müsse den Geist von Hartz IV hinter sich lassen. Knuth wirbt für den Aufbau eines Sozialen Arbeitsmarktes, der Jobs schafft und damit gesellschaftliche Teilhabe verspricht.

Matthias Knuth geht zwar davon aus, dass auch nach einer grundlegenden Reform der Beschäftigungspolitik viele Langzeitarbeitslose keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben werden. Doch Jobs im Sozialen Arbeitsmarkt, den nach seiner Meinung auch Privatfirmen anbieten sollten, seien ein gutes Beschäftigungsangebot, sagte der Wissenschaftler am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen im Gespräch mit Dirk Baas: "Wir brauchen einen anderen politischen Diskurs über derzeit dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Menschen, der es für Unternehmen ehrenhaft macht, sie zu beschäftigen."

epd sozial: Herr Professor Knuth, Sie unterziehen die bestehende Arbeitsmarktpolitik einer sehr fundamentalen Kritik. Gibt es denn trotzdem positive Aspekte der Hartz-IV-Reform?

Matthias Knuth: Die Reform hat den Blick auf dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Menschen geschärft, die vor der Reform nur verwaltet wurden und über die man eher wenig wusste. Sie hat das gesamte Instrumentarium der aktiven Arbeitsförderung auch für diejenigen zugänglich gemacht, die vor der Reform Sozialhilfe, also laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen bezogen.

epd: Das klingt nach: ja, aber...

Knuth: Ja. Das gilt im Grundsatz, wird in der Praxis aber durch immer unzureichendere Mittelausstattung eingeschränkt.

epd: Sie werben für eine "Reform der Reform". Sie fordern einen ganz anderen Geist der Förderpolitik, ein anderes Menschenbild. Wer genau soll von diesem Umdenken künftig profitieren?

Knuth: Alle, die "Grundsicherung für Arbeitsuchende" beziehen, sowie die um ein Vielfach größere Zahl von erwerbstätigen oder seit kurzem arbeitslosen Menschen, die sich vor einem Abstieg in die Grundsicherung fürchten.

epd: Offizielle Stimmen preisen stets den Zustand des deutschen Arbeitsmarktes im EU-Vergleich als gut. Doch gerade beim Blick auf die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist diese Sicht für Sie nicht haltbar. Warum?

Knuth: Gerade die historisch günstige Situation des Arbeitsmarktes macht die Polarisierung der Chancen und die Aussichtslosigkeit eines Teils der Langzeitarbeitslosen offensichtlich. Man sollte die Lobpreisung der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation nicht übertreiben. Wir haben jetzt in etwa den Stand vor der deutschen Einigung erreicht. Damals wurde dieser Zustand allgemein als unbefriedigend angesehen.

epd: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen sinkt seit Jahren nicht, es sind seit 2012 immer rund eine Million. Warum gelingt es den Jobcentern nicht, hier mehr Vermittlungserfolge zu erzielen?

Knuth: Die Jobcenter haben nach wie vor nicht die nötige Personalausstattung. Die eher unattraktiven Arbeitsbedingungen bei den Jobcentern verursachen zudem eine hohe Personalfluktuation, was sich auf die Stabilisierung und Vermittlung von Personen, die sich am Arbeitsmarkt hohen Zugangshürden gegenüber sehen, besonders negativ auswirkt. Schließlich scheinen aber auch die Organisationskultur der Jobcenter und der gesetzliche Rahmen, unter dem sie agieren, für die Entfaltung von Breitenwirkung im Arbeitsmarkt nicht gerade förderlich zu sein.

epd: Das ginge ja auch anders ...

Knuth: Ja. Das Bundesprogramm "Perspektive 50plus", das von 2005 bis 2015 gefördert wurde, hat gezeigt, wie durch bessere Personalschlüssel und flexiblere Handlungsbedingungen größere Vermittlungserfolge erzielt werden können. Aber auch dieses Programm hat nur einer Minderheit der Teilnehmenden helfen können.

epd: Sie benennen strukturelle Gründe für das Scheitern der Vermittlungspolitik. Kann man denn diese Zielgruppe mit ihren oft komplexen Problemen überhaupt im Sinne der offiziellen Politik "aktivieren"?

Knuth: Nur etwa 15 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind auf dem Helferniveau beschäftigt, während etwa 45 Prozent der Arbeitslosen für keine anderen als für Hilfstätigkeiten in Frage kommen. Hier sehen wir das Ergebnis eines Aussortierungsprozesses, der nicht durch Vermittlung umkehrbar ist.

epd: Wo liegen deren Defizite? Und wie viele Personen sind betroffen?

Knuth: Oft in der fehlenden oder veralteten Berufsausbildung, aber auch gesundheitliche Einschränkungen sind unter Langzeitarbeitslosen weit verbreitet, teils ebenfalls als Ergebnis von Sortierprozessen, teils als Folge der Arbeitslosigkeit selbst. Eine wichtige Rolle spielen auch psychische Beeinträchtigungen, die häufig gar nicht diagnostiziert sind, aber dazu führen, dass die Betroffenen zwar einerseits gerne arbeiten und ihre soziale Isolierung überwinden würden, andererseits aber sich vor den Anforderungen der Arbeitswelt fürchten. Wir müssen von einigen 100.000 Personen ausgehen, die für eine vorzeitige Rente zu gesund, für eine Altersrente zu jung und für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu krank sind. Für diese bietet die "Aktivierungsphilosophie" in ihrer derzeitigen Engführung keine Perspektive.

epd: Sie sehen auch kritisch, dass das Oberziel der schnellen Vermittlung in jedwede Arbeit über persönliche Ansprüche und Wünsche der Betroffenen hinweggeht. Wie soll sich das künftig ändern?

Knuth: Man sollte sich grundsätzlich eingestehen, dass man durch Druck und Sanktionsdrohungen bestenfalls verwaltungskonformes Verhalten erzwingen und Scheinaktivitäten wie etwa eine vorgeschriebene Anzahl von ungezielten Bewerbungen auslösen kann, aber keine in dauerhafte Arbeit führende Aktivierung. Die Jobcenter haben keine Macht über das individuelle Verhalten auf dem Arbeitsmarkt. Sie können deshalb nur in dem Maße wirksam sein, wie es ihnen gelingt, die Selbstbehauptungskräfte ihrer "Kunden" zu stärken. Das bedeutet: Umgang auf Augenhöhe, ernsthafte Berücksichtigung von Wünschen, "Eingliederungsvereinbarung" nur auf freiwilliger Basis und die Einrichtung von vorgerichtlichen Klärungs- und Mediationsinstanzen bei Konflikten.

epd: Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist vom Arbeitsmarkt dauerhaft ausgeschlossen, weil die aktivierende Arbeitsmarktstrategie versagt. Jetzt kommen noch viele Migranten hinzu.

Knuth: Die Probleme werden zunehmen: Einerseits deshalb, weil auch ein großer Teil der Geflüchteten nach ihrem aktuellen Ausbildungsstand nur auf dem Helferniveau beschäftigt werden könnte - wo es jedoch nicht genügend Stellen gibt. Andererseits aber auch deshalb, weil Arbeitsmarktzugang und Qualifizierung von Geflüchteten durch eine Vielzahl von Vorschriften behindert wird, die noch aus Zeiten der Abschottung gegen Migration stammen. Und die Abschottung wird jetzt wieder zunehmen: Der nach der Bundestagswahl absehbare Rechtsruck in der Migrations- und Integrationspolitik wird sich unmittelbar auf dem Arbeitsmarkt und in den Kosten für den Unterhalt von Geflüchteten niederschlagen.

epd: Sie weisen darauf hin, dass die Zielsetzungen der relevanten Gesetze SBG II und SGB III sich zum Teil sogar widersprechen und ihnen die Gerechtigkeitslogik fehlt. Welche Veränderungen sollte die Politik hier vornehmen?

Knuth: Das SGB III formuliert Ziele für eine gute Beschaffenheit und Ordnung des Arbeitsmarktes insgesamt, die im SGB II nicht gelten und die sogar unterlaufen würden, wenn die rasche Vermittlung in Arbeit jedweder Art gelingen würde.

epd: Woran sieht man das?

Knuth: Gerechtigkeitsprobleme entstehen im SGB III dann, wenn Beitragszahlungen im Falle von Arbeitslosigkeit nicht zu Ansprüchen führen, zum Beispiel nach nur kurzer Beschäftigungsdauer oder bei häufigen Unterbrechungen der Beschäftigung. Im SGB II entsteht Ungerechtigkeit, wenn vorherige Leistung nicht anerkannt wird, etwa wenn auch für Menschen, die vor noch nicht langer Zeit in qualifizierter Tätigkeit waren, vom ersten Tag an jede Tätigkeit zumutbar ist. Ein anderes Beispiel sind erwerbstätige Frauen und Männer, die nicht auf Hartz IV angewiesen wären, wenn sie allein leben würden, die sich aber wegen Verantwortung für Partner oder Kinder so behandeln lassen müssen, als wären sie selbst bedürftig. Bei allen diesen Punkten könnte man Korrekturen vornehmen, ohne dass die Arbeitsmarktorientierung leiden würde.

epd: Unabhängig von der Höhe des Regelsatzes werben Sie dafür, in den Zielvorgaben festzuschreiben, dass die Förderpolitik so angelegt sein muss, dass ein menschenwürdiges Dasein mit der Teilhabe an Kultur und Politik möglich ist. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Knuth: Das SGB II ist für Menschen zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze, die schrittweise von 65 auf 67 Jahre ansteigt, das unterste soziale Netz mit umfassender Zuständigkeit für die Verwirklichung der sozialen Grundrechte. Untersuchungen zur Lebenslage der Betroffenen kommen zu dem Ergebnis, dass die gewährten Leistungen die materiellen Lebensgrundlagen einigermaßen sichern, dass aber bei der Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben Defizite bestehen.

epd: Das ist politisch so gewollt.

Knuth: Ja, das liegt teilweise an der sehr restriktiven Berücksichtigung solcher Bedarfe in den Regelsätzen, zum anderen aber auch daran, dass man Zugänge zu manchen für ein menschenwürdiges Leben wichtigen sozialen Zusammenhängen nicht kaufen kann. Hier geht es darum, Gelegenheitsstrukturen zu schaffen. Und da das SGB II neben seinem Teilhabeauftrag vor allem ein Arbeitsmarktgesetz ist, liegt es nahe, hier in erster Linie an öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse zu denken.

epd: Sie unterstellen, dass es auch nach grundlegenden Reformen erwerbsfähige Hilfebedürftige geben wird, die keine Chance auf dem Jobmarkt haben werden. Für diese Personen fordern Sie öffentliche Beschäftigungsverhältnisse. Warum lässt sich nur so soziale Teilhabe effektiv sichern?

Knuth: Unsere Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft, in der soziale Einbindung und gesellschaftliches Ansehen wesentlich über Erwerbsarbeit vermittelt werden. Seit der Aspekt der sozialen Teilhabe bei der Evaluation unterschiedlicher Beschäftigungsprogramme und -maßnahmen überhaupt berücksichtigt wird, zeigen die Ergebnisse regelmäßig positive Auswirkungen. Die Tatsache, dass diese Beschäftigungen zu wesentlichen Teilen öffentlich finanziert sind, tut der Verbesserung der sozialen Teilhabe keinen Abbruch. Wenn man dann noch bedenkt, dass die beschäftigten Personen ja sowieso mit öffentlichen Mitteln unterhalten werden müssten, dass sich also die Beschäftigung zu einem erheblichen Teil aus der Einsparung von Unterhaltsleistungen finanzieren lässt, dann ist eine Ausweitung solcher Maßnahmen über das derzeitige bescheidene Niveau hinaus geradezu geboten.

epd: Mich erinnert die Idee an die Rückkehr der sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die einst die Kommunen eingerichtet hatten, und die es bis 2012 gab. Es existierte also schon einmal ein "zweiter Arbeitsmarkt". Würden Sie sagen, die ABM haben sich nicht bewährt?

Knuth: Nein, das würde ich nicht sagen. ABM haben schon soziale Teilhabe vermittelt, als dieser Begriff in der Arbeitsmarktpolitik noch gar nicht gebräuchlich war. Stattdessen hat man ABM und andere Beschäftigungsinstrumente an dem gleichen Kriterium gemessen wie alle anderen Maßnahmen, nämlich an den Übergängen in ungeförderte Beschäftigung in den "ersten" Arbeitsmarkt. Doch wenn man richtigerweise die Zielgruppe auf diejenigen beschränkt, die im allgemeinen Arbeitsmarkt keine Chance haben, und wenn man dann außerdem noch die förderbaren Tätigkeiten durch Abgrenzungskriterien wie "öffentliches Interesse" und "Zusätzlichkeit" in eine Nische möglichst fern von der Arbeitsmarktrealität abdrängt, dann ist dieses Ergebnis ja vorprogrammiert.

epd: Sie könnten also mit "neuen" ABM leben?

Knuth: Die Namen für Beschäftigungsprogramme wechseln immer schneller, und von mir aus könnte man sie auch wieder "ABM" nennen. Aber aktuelle Debatten laufen seit einigen Jahren hauptsächlich unter der Bezeichnung "Sozialer Arbeitsmarkt", und das bedeutet vor allem zweierlei: Keine harte Grenze zwischen "erstem" und "zweitem" Arbeitsmarkt, sondern Ähnlichkeit der Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen sowie Durchlässigkeit für die Beschäftigten. Und daraus folgt zweitens: kein reiner "Trägermarkt", sondern Beteiligung "normaler" Arbeitgeber.

epd: Was sollte die Firmen reizen, diese Idee zu unterstützen?

Knuth: Fachkräfteengpässe führen bei den Unternehmen zu einem Umdenken bezüglich ihrer Einstellungspolitik. Die Offenheit vieler Unternehmen für Geflüchtete hat gezeigt, dass sie durchaus auch jenseits kurzfristiger Nützlichkeitserwägungen bereit sind, sich für Benachteiligte zu engagieren, wenn ihnen die betreffende Gruppe von der Politik als eines solchen Engagements "würdig" präsentiert wird. Das gilt zum Beispiel auch für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen, deren Situation ja ebenso wenig als selbstverschuldet gilt wie die Lage der Geflüchteten.

epd: Daraus folgt?

Knuth: Wir brauchen einen anderen politischen Diskurs über derzeit dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Menschen, der es für Unternehmen ehrenhaft macht, sie zu beschäftigen. Und wir brauchen wie bei Geflüchteten und bei Menschen mit Behinderungen professionelle Unterstützung bei ihrer beruflichen Eingliederung. Zeitnah und unbürokratisch verfügbare Unterstützungsangebote wie Coaching, Qualifizierung und Konfliktmediation sind in der längeren Frist wahrscheinlich sogar wichtiger als Lohnkostensubventionen, die ja allenfalls Minderleistungen ausgleichen, aber bei Beschränkung der Teilnehmerauswahl auf wirklich Benachteiligte niemals einen Anreiz bieten können.


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