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Dokumentation

Konfessionelle Wohlfahrtsverbände im Umbruch




Wolfgang Schroeder
epd-bild/David Ausserhofer
Die kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen stehen unter hohem Anpassungsdruck. Zum scharfen Wettbewerb auf den Sozialmärkten kommt hinzu, dass von ihnen zunehmend eine vorsorgende Sozialarbeit erwartet wird. Also ein Engagement, das sozialer Ausgrenzung und Prekarisierung entgegenwirkt. Der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder analysiert die Lage von Caritas und Diakonie. Und er wagt eine Zukunftsprognose.

Seit zwei Jahrzehnten beschäftigt sich der Politologe Wolfgang Schroeder wissenschaftlich mit dem deutschen Sozialstaat und der besonderen Rolle, die hier die Wohlfahrtseinrichtungen der Kirchen seit ihren Anfängen einnehmen. In seinem Buch "Konfessionelle Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Fortführung des deutschen Sonderwegs durch vorsorgende Sozialpolitik?" zeigt er, dass eine wandlungsfähige und zugleich ihren moralischen Werten verpflichtete konfessionelle Wohlfahrt trotz der fortschreitenden Ent-Kirchlichung der Gesellschaft ihre starke Stellung in der deutschen Sozialwirtschaft behaupten kann. Epd sozial dokumentiert mit der freundlichen Genehmigung des Verlags das Kapitel "Fazit" in Auszügen:

"Der Sozialstaat, vor allem seine Leistungsfähigkeit, ist in der Bundesrepublik eine zentrale Legitimationsquelle des politischen Systems. Dafür stehen einerseits die verbürgten Rechte auf den Zugang zu sozialen Leistungen und andererseits die Qualität sowie Wirksamkeit dieser Leistungen im Interesse der Begünstigten. Dabei befördern die sich verändernden Rahmenbedingungen und Bedarfe die Anforderungen und Erwartungen, die an das Sozialsystem adressiert werden und setzen somit dessen Akteure unter einen permanenten Innovations- und Anpassungsdruck.

Lange Zeit war die Frage der sozialen Sicherheit und der Lebenschancenpolitik in Deutschland stark auf die Sozialversicherungen ("Sozialversicherungsstaat") konzentriert. Je mehr es aber um unterstützende Hilfen geht, die vor allem auf individuelle Lebensformen Bezug nehmen, stehen die staatliche Daseinsvorsorge und die Wohlfahrtsverbände im Zentrum (duales System der Wohlfahrtspflege). Aufgrund begrenzter Ressourcen bei gleichzeitig komplexer werdenden Lebenslagen im Kontext von Individualisierung, Pluralisierung und demografischem Wandel erhöht sich der Druck auf den Sozialstaat, zu besseren und effizienteren Leistungsangeboten zu gelangen. Bedingt durch diesen Druck entfalten sich seit den 1990er Jahren intensivere Suchbewegungen, um auf die neuen Spannungen zwischen wirtschaftlicher Effizienz und qualitativen Ansprüchen nach mehr individueller Förderung bessere Antworten zu geben …

Es oblag schließlich dem bundesdeutschen Gesetzgeber, die Erbringung sozialer Leistungen neu zu justieren: Erstens wurden dazu neue Steuerungs- und Wettbewerbsmodi zu Beginn der 1990er Jahre eingeführt. Neben konkreteren staatlichen Vorgaben und Kontrollen ist ein Kernelement dieser Politik die Auflösung korporatistischer Strukturen und die Einführung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen im Sozial- und Pflegebereich. Dies geht mit einem Privilegienverlust der traditionellen Wohlfahrtsverbände zugunsten privater Anbieter sozialer Dienstleistungen einher …

Zweitens entwickelten sich seit den 1980er Jahren vermehrt Initiativen, die darauf drängten, die Wirksamkeit sozialstaatlicher Leistungen durch ein anderes Modell der Steuerung sowie verbesserte Infrastrukturen effizienter zu gestalten. Der stärkere Bezug auf individuelle Lebenslagen und neue soziale Risiken bedeutet, dass der Sozialstaat im Bereich der aktivierenden, befähigenden und vorsorgenden Elemente erweitert wird. Dazu zählen auch Ansätze, die bei der unmittelbaren Lebensumwelt und dem Wohnumfeld der Einzelnen ansetzen. Die Konzepte der Sozialraumorientierung (Caritas) und Gemeinwesendiakonie (Diakonie) weisen bereits in eine solche Richtung …

Bestandteil dieses Wohlfahrtspluralismus sind auch Ansätze vorsorgender Sozialpolitik, die auf individuelles Empowerment abzielen. Dabei soll ein Ensemble von Einrichtungen, Projekten und Akteuren wirksame Selbsthilfe unterstützen … Die Wohlfahrtsverbände mit ihren 105.000 Einrichtungen und 1,7 Millionen Beschäftigten stellen bedeutende Akteure innerhalb dieser dynamisierten und weiter pluralisierten Konstellation erneuerter Wohlfahrtsstaatlichkeit dar.

Die konfessionellen Wohlfahrtsverbände … hatten bereits vielfältige Wachstums-, Umbau- und Reformprozesse hinter sich, als sie in den 1990er Jahren mit der staatlich initiierten Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen konfrontiert wurden. Wichtige Meilensteine dieses Prozesses waren die Einführung der Pflegeversicherung 1994 …, die Reform des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG 1996) … sowie des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG 1998 …). Diese Prozesse des Sozialstaatsumbaus führten nicht nur zur Gleichstellung privater Anbieter mit den Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände …

Mit der stärkeren Orientierung an betriebswirtschaftlichen Kennziffern rückte die weltanschauliche und programmatische Frage ins Zentrum der Debatte: Führen diese neuen Maßstäbe unternehmerischer Bewertung sozialer Dienstleistungen zu einem Verlust des diakonischen und karitativen Kerns, der Leitidee der Arbeit konfessioneller Wohlfahrtsverbände? Hat dies zur Folge, dass die Distanz zu den Amtskirchen und den einzelnen Kirchengemeinden wächst? Kann das anwaltschaftliche Selbstverständnis zugunsten sozial Schwacher glaubwürdig aufrechterhalten werden, wo doch die Einrichtungen nun den preislichen Zwängen des Wettbewerbs ausgesetzt sind und daher einen Niedriglohnsektor unter dem eigenen Dach zulassen? …

Richtig ist, dass die externen Vorgaben zentral sind und damit eine Anpassung seitens der konfessionellen Vorgaben gefordert wird, die auch zur Preisgabe tradierter eigener Steuerungsformen und zu Vertrauensverlusten im kirchennahen Milieu beigetragen haben. Gleichwohl lassen sich eigenständige Suchbewegungen der Verbände und Kirchen identifizieren, um diesen Herausforderungen für die eigene normative und praktische Arbeit zu begegnen …

Caritas und Diakonie tragen als die beiden größten Wohlfahrtsverbände in Deutschland gegenwärtig die Verantwortung für etwa 54.000 Einrichtungen bundesweit. Besonders auffallend ist der Anstieg bei den Beschäftigtenzahlen. Diese verdoppelten sich bei der Caritas im Zeitraum zwischen 1970 und 2014 auf 617.193. Bei der Diakonie hat sich der Bestand im selben Zeitraum mehr als verfünffacht (464.828 Beschäftigte).

Beide Verbände bedienen im Bereich der sozialen Dienstleistungen spezifische Schwerpunkte, wobei die Caritas vor allem im Bereich Kinder, Jugendliche und Familie sowie in der Aus- und Weiterbildung tätig ist, während die Diakonie bei der Förderung von Menschen mit Behinderungen besonders aktiv ist. Zudem spielen stationäre Einrichtungen für die Diakonie eine weitaus größere Rolle, während die Selbsthilfearbeit von der Caritas stärker gefördert wird. …

Infolge des personellen Wachstums und der neuen Steuerungslogiken kommt es zu Spannungen zwischen Wohlfahrtsverbänden und ihren Kirchen, die sowohl in programmatisch-theologischen und organisatorischen Fragen als auch in sozialisationsbedingter Entfremdung begründet sein können. Häufig ist von Vertrauensverlusten die Rede, die ihre Ursachen in den Steuerungsansprüchen des Staates, aber auch im neuen Leitungspersonal der Verbände und ihren Einrichtungen haben.

Trotz dieser Irritationen, die auch mit den Erneuerungsprozessen der Leitbilder einhergehen, verstehen sich die Verbände weiterhin als Teile ihrer Kirchen. Dafür sorgt nicht zuletzt der Fortbestand zahlreicher identifikationsstiftender, professioneller und ehrenamtlicher Verbindungen zwischen den Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen ... Um die besondere Struktur der Beziehungen von Wohlfahrtsverbänden und Kirchen zu beschreiben, ließe sich von einer lose verkoppelten Anarchie sprechen, die vielfältigen Spannungen, Frustrationen und Irritationen unterliegt, die aber bislang nicht zu einem Bruch zwischen den Akteuren führten. Beide Institutionen scheinen weiterhin wechselseitig aufeinander angewiesen zu sein …

Die Wohlfahrtsverbände sind in starkem Maße durch festgelegte Pflichtaufgaben in nachsorgenden Bereichen gefordert. Zugleich suchen sie aber in ihrer Programmatik den veränderten Anforderungen einer an Befähigung, Teilhabe und Selbstbestimmtheit orientierten Konzeption vorsorgender Sozialpolitik gerecht zu werden. Bei der Caritas wurde die wachsende Armutsproblematik in der deutschen Gesellschaft zum Ausgangspunkt für eine Befähigungsinitiative (2006), die den Ausbau sozialpädagogischer Maßnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vorantrieb. Tatsächlich zeigt sich in der Kinder- und Jugendhilfe zwischen 2001 und 2010 ein Beschäftigungszuwachs von etwa 14.000 Beschäftigten. In den sozialpolitischen Vorstellungen der Diakonie lässt sich ein Paradigmenwechsel im Bereich der individuellen Bildungsförderung und Teilhabegerechtigkeit feststellen.

Diese Verschiebung hin zur Vorsorge bezieht sich keineswegs nur auf den konzeptionellen Bereich, sondern auch auf ihre operative Umsetzung. Dadurch gelang es, Strukturen und Elemente vorsorgender Sozialpolitik auszuweiten. Da die staatliche Förderung in der Regel nur projektgebunden ist, sind diese Angebote jedoch regional und temporär begrenzt, fußen also nicht auf einer dauerhaften Basis. Vorsorgende und präventive Elemente finden sich somit vorrangig in einzelnen lokalen und regionalen Projekten, aber auch innerhalb einzelner Einrichtungen oder in Kooperation mit anderen Akteuren und Dienstleistern vor Ort. Da die Konzeption einer präventiven und vorsorgenden Sozialpolitik stark an sozialräumlichen Strukturen interessiert ist, die als Integrations- und Befähigungsräume wirken sollen, ist auch die Verbindung zu den Kirchengemeinden von Bedeutung …

Es liegen zahlreiche Hinweise vor, die einen Glaubwürdigkeitsverlust der Verbände untermauern. Dieser beruht vor allem darauf, dass sie die Orientierung an wettbewerblichen Positionen zu passiv übernommen und sich zu wenig um eine in ihrer christlichen Traditions- und Wertebasis verankerte Rezeption gekümmert haben. Zusätzliche Schwierigkeiten treten im Bereich der sozialen Dienste auf, wenn kirchliche Sonderrechte und spezielle moralische Anforderungen nicht mehr mit der wachsenden Zahl kirchenfremder Mitarbeiter in Einklang gebracht werden können.

Erinnern wir uns an die Funktion der Wohlfahrtsverbände als intermediäre, staats- und marktferne Akteure, die eine spezifische Nähe zu bestimmten Lebensmodellen besitzen und aufgrund dessen ihre Leistungen mit einem Vertrauensvorschuss erbringen können. Diese Funktion steht und fällt mit der Akzeptanz, die den verbandlichen Vorgehensweisen in Öffentlichkeit, Politik und im Umgang mit ihren Patienten und anderen Dienstleistungsnehmern entgegengebracht wird.

Durch eigene Gestaltung ihrer Ressourcen haben sie das Potenzial, noch stärker als bisher geschehen selbstständig Kooperationsprozesse zu initiieren und voranzutreiben, Kräfte zu bündeln und vor Ort auch vorsorgende und befähigende Leistungen anzubieten. Dies wiederum könnte die Legitimation und herausgehobene Stellung der konfessionellen Wohlfahrtsverbände stärken und damit deren Zukunftsfähigkeit verbessern ..."

Literatur: Wolfgang Schroeder, Konfessionelle Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Fortführung des deutschen Sonderwegs durch vorsorgende Sozialpolitik?, Springer Nature, Wiesbaden 2017, 203 Seiten, ISBN 978-3-658-16298-6

Professor Dr. Wolfgang Schroeder lehrt an der Uni Kassel Politikwissenschaft. Er ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD und war von November 2009 bis Februar 2014 Staatssekretär im Sozialministerium des Landes Brandenburg.

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