Ausgabe 49/2017 - 08.12.2017
Schwerte (epd). Wie eine Flutwelle scheint die Digitalisierung auf uns zuzurollen. Zusammen mit den Megatrends Globalisierung und demografischer Wandel baut sie eine Veränderungsdynamik auf, die jegliches Beharrungsvermögen zu pulverisieren droht. Noch kann niemand das Ausmaß genau vorhersagen. Aber dass unserer Art zu leben und zu arbeiten ein umfassender Wandel bevorsteht, lässt sich in immer mehr Lebensbereichen immer schneller spüren. Auch auf allen politischen Ebenen steht das Thema ganz oben auf der Agenda. Ob Land, Bund oder EU – Weißbücher, Aktionspläne und Förderprogramme etwa für Forschung, Breitband und kleine und mittlere Unternehmen schießen wie Pilze aus dem Boden.
Inzwischen erreicht die Digitalisierung auch einen Sektor, der aufgrund seiner besonderen Prägung zunächst verschont zu bleiben schien – die Sozialwirtschaft. Im Sog der Gesundheitswirtschaft, und hier insbesondere des Krankenhausbereichs, werden die sozialen Dienste am Menschen zunehmend vom Ruf nach neuen, digitalen Geschäftsmodellen erfasst. Traditionelle, diakonische Einrichtungen setzen plötzlich enorme Fantasien und Ressourcen zur Schaffung einer betrieblichen Innovationskultur frei.
Allerdings zeigen sich schnell die Grenzen einer umfassenden Digitalisierung. Zunächst kommen die notwendigen Investitionen in der chronisch unterfinanzierten Sozialwirtschaft meist nur schleppend voran. Außerdem stößt die Akzeptanz digitaler Geschäftsmodelle immer dann auf Widerstand in Gesellschaft und Einrichtung, wenn sie im Vorfeld nicht umfassend und wertschätzend kommuniziert werden. Dabei sind klare Abstufungen zu erkennen.
Die Ausweitung mobiler Datenerfassung zur effektiveren Dokumentation und Steuerung der angebotenen Dienste lässt sich aufgrund vielfältiger Erfahrungen im privaten Bereich oft noch hinreichend vermitteln, selbst in Zeiten steigender Sensibilität für Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung. Auf große Vorbehalte stößt hingegen der Einsatz von Therapie- und Servicerobotik in der Pflege, nicht zuletzt aus ethischen Gründen. Und neue Konzepte wie kollaborative Netzwerke oder die systematische Einbindung von Kunden und externen Stakeholdern zur Produktentwicklung und Qualitätskontrolle erfordern einen kulturellen Wandel, der in der Sozialwirtschaft sicher nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist.
Sowohl eine schleichende Digitalisierung als auch der abrupte Wechsel zu neuen digitalen Geschäftsmodellen können in der Belegschaft heftige Reaktionen hervorrufen, von Begeisterung über kritische Reserviertheit bis hin zur Verweigerung. Welche Rolle spielen nun die Mitarbeitervertretungen in Kirche und Diakonie (MAV) in diesem zunehmend existenziellen Wandlungsprozess? Sie stehen zunächst vor einem Dilemma.
Bei vielen Einzelmaßnahmen in Richtung Digitalisierung ist kaum abzusehen, ob sie sich zum Nutzen oder zum Schaden der Mitarbeitenden auswirken werden. Wenn etwa die Dokumentation der eigenen Arbeit zunehmend automatisiert erfolgt, bleibt zunächst offen, ob der gewonnene Freiraum zu mehr Zeit für die betreuten Kunden oder zu mehr betreuten Kunden, also einer Leistungsverdichtung, führt. Gerade hier liegt die besondere Herausforderung für die MAV. Sie muss sowohl die Auswirkungen jeder einzelnen Maßnahme als auch die Digitalisierungsstrategie der Geschäftsleitung insgesamt abschätzen können, um im Interesse der Mitarbeitenden handlungsfähig zu sein.
Auf diese Aufgabe sind die meisten MAVen bisher kaum vorbereitet. Um sie erfüllen zu können, müssten sie rasch digitale Kompetenzen aufbauen und diese verstärkt mit Kenntnissen der jeweils betroffenen Rechtsgebiete wie Arbeits- und Datenschutz verbinden. Außerdem müssten die MAVen im permanenten Austausch mit der Geschäftsleitung und den zuständigen Fachabteilungen die betriebswirtschaftlichen Treiber der Entwicklung richtig einschätzen lernen, um vorausschauend reagieren zu können.
Dafür aber brauchen die MAVen finanzielle und zeitliche Ressourcen, die sie derzeit nicht haben. Darüber hinaus dürften die oftmals zermürbenden Auseinandersetzungen der letzten Jahre und Jahrzehnte dem erforderlichen, kooperativen Miteinander zwischen Leitung und MAV nicht immer förderlich gewesen sein. Allerdings wird die Digitalisierung beide Seiten, MAV und Geschäftsleitung, künftig enger als bisher aneinanderschweißen.
Nur eine konsistente Digitalisierungsstrategie wird auf Dauer das Überleben von Einrichtungen in der Sozialwirtschaft sichern – sie ist somit im Interesse aller Beteiligten. Umgesetzt werden aber kann eine solche Strategie nur in einem partizipativen Prozess, der die Mitarbeitenden auf Augenhöhe bringt, sie einbindet und mitnimmt. Der MAV kommt hierbei als Schnittstelle eine herausragende Rolle zu. Dementsprechend muss sie sich ihrer Verantwortung stellen, dementsprechend muss sie aber auch ausgestattet werden.
Spätestens wenn die Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass die Gewinnung neuer Mitarbeitenden und Kunden überwiegend vom Standing der jeweiligen Einrichtung in den sozialen Netzwerken abhängt, werden die Karten neu gemischt. Die Verantwortlichkeiten von Leitung, MAV, Mitarbeitenden, Kunden und externen Stakeholdern dürften sich dann zusehends so vermischen, dass bisherige Formen der Arbeitsteilung an Trennschärfe verlieren. Die Kontrolle über das eigene (digitale) Geschäftsmodell wird in diesem Prozess teilweise aus der Hand gegeben. Eine eingespielte und auf Vertrauen basierende Zusammenarbeit von Geschäftsleitung und MAV dürfte dann zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden, gerade auch in der Sozialwirtschaft.