Ausgabe 2/2018 - 12.01.2018
Würzburg (epd). Das ist in der Bevölkerung nahezu unbekannt: Dass es Menschen gibt, die sich die Welt weder mit ihren Augen noch mit ihren Ohren erschließen können. Wie es Taubblinden möglich ist, sich zu verständigen, das können sich sehende und hörende Menschen kaum vorstellen. Dabei verfügen die Betroffenen über ein breites Spektrum an Kommunikationsmöglichkeiten.
Im 1967 gegründeten Deutschen Taubblindenwerk Hannover tauschen sich Bewohner, die über einen Sehrest verfügen, zum Beispiel über die Deutsche Gebärdensprache untereinander oder mit sehenden Beschäftigten aus. "Verliert ein Tauber seine Sehkraft, dann hat er immer noch den visuellen Eindruck der Gebärden", erläutert Sebastian Öhl vom Taubblindenwerk. Nach der Erblindung findet die Kommunikation dann über das sogenannte "Taktile Gebärden" statt: "Die Gebärden werden dabei über das Berühren der Hände 'gelesen'." Bei der Kommunikationsart "Lormen" für Taubblinde werden verschiedene Kontaktpunkte in der Handinnenfläche Buchstaben zugeordnet. Ein lormender Taubblinder buchstabiert seinem Gegenüber das, was er sagen möchte, sozusagen in die Hand hinein.
Wenige Jahre, nachdem die Einrichtung in Hannover begonnen hatte, Taubblinde zu beschulen, fing auch das Würzburger Blindeninstitut an, mehrbachbehinderte, blinde Kinder zu unterrichten. "Irgendwann entdeckten wir, dass einige unserer Schüler nicht nur nichts sehen, sondern auch nichts oder fast nichts hören", erinnert sich Hans Neugebauer, ehemaliger Direktor. Die Stiftung begann daraufhin, eine Abteilung für taubblinde Menschen aufzubauen.
Heute leben 80 Betroffene im Blindeninstitut. Einer von ihnen ist Patrick Radecke. Der 34-Jährige kann überhaupt nichts hören, verfügt aber noch über einen Sehrest. Zu seiner ausgeprägten Sinnesbehinderung kommt ein geistiges Handicap.
Mit sechs Jahren kam Radecke in die Würzburger Einrichtung. "Seine Eltern verließen die DDR kurz vor der Wende", erzählt sein langjähriger Betreuer Martin Seeberger. Vollgepumpt mit Medikamenten sei Patrick angekommen. Der Stempel "unbildbar" haftete ihm an. In einem mühsamen Prozess gelang es, die Medikamente abzusetzen. Dass Patrick Beruhigungsmittel bekam, lag an seiner Aggressivität. Die Unfähigkeit, gegenüber einem sehenden und hörenden Umfeld Wünsche und Abneigungen auszudrücken, erzeugte in Patrick immense Spannungen.
Das Blindeninstitut bewies, dass Patrick Radecke trotz Taubblindheit und kognitiver Beeinträchtigung sehr wohl "bildbar" ist. Heute macht sich der junge Mann mit 300 Gebärden verständlich. Für vieles, was ihm im Alltag begegnet, hat er ein Symbol gefunden. Sein Therapeut Seeberger zum Beispiel ist für ihn die "Jacke". "Das liegt daran, dass ich früher immer mit einem Jäckchen in die Gruppe kam", schmunzelt der Pädagoge. Noch heute macht er die Geste "Jacke anhaben", wenn er Patrick besucht und sich ihm vorstellt.
Was Patrick Radecke in den vergangenen knapp 30 Jahren gelernt hat, ist für Johannes Spielmann, der das Blindeninstitut heute leitet, ganz erstaunlich: "Er geht inzwischen alleine zum Bäcker." Das tut Radecke, wie fast alles, was er unternimmt, nach einem akribischen Plan, den er verinnerlicht hat. Macht er sich mit seinem weißen Blindenstock auf den Weg zum Brötchenholen, ist er voll und ganz auf dieses Tun konzentriert. Besser, man spricht ihn dann nicht an, um ihn nicht aus dem Konzept zu bringen.
"Was Taubblinde vor allem einschränkt, ist ihre behinderungsbedingte Isolation", sagt Sebastian Öhl vom Deutschen Taubblindenwerk in Hannover. In der Einrichtung werden aktuell 79 Kinder und Jugendliche beschult. Ein Teil der jungen Menschen lebt im einrichtungseigenen Internat. In der Abteilung für Erwachsene wohnen 60 Taubblinde zwischen 20 und fast 90 Jahren.
Auch in Hannover sind laut Öhl nicht alle Bewohner vollständig taub und blind: "Die doppelte Sinnesbehinderung gibt es in jedweder Facette." Eine ausgeprägte Hör- und Sehbehinderung ist nach seinen Worten im Alltag jedoch oft gleich bedeutend mit einer Taubblindheit. Zu beobachten sei, dass immer weniger Bewohner "nur" eine doppelte Sinnesbehinderung haben: "Wir sehen immer öfter eine Kombination mit kognitiven Beeinträchtigungen, psychischen Krankheiten und komplexen Behinderungen.
Diese Erfahrung macht auch das diakonische Oberlinhaus in Potsdam, das seit 130 Jahren taubblinde Menschen unterstützt. Die 47 Taubblinden, die in sechs Wohngruppen leben, sind unterschiedlich stark behindert. "Das reicht von der leichten Beeinträchtigung der Sinnesorgane bis hin zum kompletten Verlust des Hör- und zugleich des Sehorgans", erläutert die Heilpädagogin Patricia Gerasch. Häufig haben auch hier Taubblinde eine geistige Behinderung.
"Zu den Behinderungen kommen oft starke Verhaltensauffälligkeiten", sagt Gerasch. Viele Taubblinde sind aggressiv sich selbst oder anderen Menschen gegenüber. Das liegt laut Gerasch unter anderem am Frust darüber, dass sie sich aufgrund ihrer starken Einschränkungen kaum "Gehör verschaffen" können."