Ausgabe 3/2018 - 19.01.2018
Mainz (epd). Auf den ersten Blick klingt es fast nach einer Lappalie, über die sich Vertreter von Bund und Ländern die Köpfe zerbrechen. Doch bei der Entscheidung, ob es in Deutschland künftig eine einheitliche Bahnsteighöhe von 76 cm "über der Schienenoberkante" geben soll, geht es darum, dass viele Menschen mit Behinderung die Bahn momentan gar nicht nutzen können. Und es geht um Kosten, die noch niemand seriös vorhersehen kann, die sich aber wohl eher in Milliarden als Millionen beziffern werden. Einige Bundesländer, die schon viel für den barrierefreien Ausbau der Bahnhöfe getan haben, fühlen sich überrumpelt.
"Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Bahn stellt in Deutschland die Bahnsteighöhe an Bahnhöfen und Haltepunkten der Schiene dar", stellte die Bundesregierung bereits vor 20 Jahren fest. Viele deutschen Bahnhöfe sind inzwischen barrierefrei modernisiert worden, aber noch immer erschwert ein buntes Durcheinander verschiedenster Bahnsteighöhen das Reisen.
Das 2017 beschlossene Bahnsteighöhenkonzept des Bundes soll die Situation ändern. "Die Idee klingt zunächst einmal ganz charmant", meint der rheinland-pfälzische Landesbehindertenbeauftragte Matthias Rösch, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist und häufig die Bahn benutzt. Doch für Länder wie Rheinland-Pfalz würde es auf Jahrzehnte hin weniger Barrierefreiheit mit sich bringen, warnt er. Denn seit vielen Jahren lässt das Land in Absprache mit der Bahn viele Regionalstrecken modernisieren - allerdings mit einer regulären Bahnsteighöhe von meist lediglich 55 Zentimetern.
Welche Probleme die vom Bund forcierte Regelung mit sich bringen würde, verdeutlicht Rösch am Beispiel der Strecke zwischen Mainz und Saarbrücken. Dort wurden in den vergangenen Jahren Bahnhöfe für viel Geld barrierefrei umgebaut. Sollte der Bund künftig nur Umbauten mit 76-Zentimeter-Bahnsteigen fördern, wäre der Ausbau gefährdet. Ohnehin gebe es wichtigere Defizite als eine einheitliche Bahnsteighöhe, sagt Rösch, etwa schlecht gewartete und häufig defekte Fahrstühle auf den Bahnhöfen.
Die Landesregierung habe eine klare Vereinbarung mit der Bahn getroffen, stellt der Mainzer Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) klar: "Rheinland-Pfalz hat seither seine Hausaufgaben gemacht." Sollte der Bund auf einer neuen Anpassung bestehen, würde dies "einen enormen Mitteleinsatz alleine für Rheinland-Pfalz von mehreren 100 Millionen Euro bedeuten".
Ähnliche Bedenken gibt es auch in Niedersachen. Landesweit gebe es noch rund 150 Bahnhöfe mit niemals modernisierten, maximal 39 Zentimeter hohen Bahnsteigen, teilt das Verkehrsministerium mit: "Daher ist es aus Sicht des Landes deutlich wichtiger, diese Bahnsteige zu erhöhen als eine Vereinheitlichung von 76 Zentimeter hohen Bahnsteigen zu fordern." Niedersachsen werde kein Geld mehr in den Umbau von Haltepunkten investieren, wenn die auf Landesebene getroffenen Vereinbarungen einseitig aufgelöst würden.
Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband "Pro Bahn" begrüßt die Idee einheitlicher Bahnsteighöhen im Grundsatz. Er schlägt unter anderem vor, für eine Übergangszeit die Gleise an 76-Zentimeter-Bahnsteigen "hochzuschottern", damit Triebwagen mit 55 Zentimetern Einstiegshöhe weiter barrierefrei nutzbar bleiben.
Das Bundesverkehrsministerium teilte mit, einheitliche Bahnsteighöhen blieben aus Sicht des Bundes ein wesentlicher Baustein für die Barrierefreiheit bei der Bahn. Allerdings sollen "regionale Besonderheiten" berücksichtigt werden. "Eine Anpassung bestehender Bahnsteige soll nur dann erfolgen, wenn ein Bahnsteig aus technischen Gründen saniert werden muss", heißt es auf Anfrage in Berlin. "Kein bestehender Bahnsteig soll vor Ende seiner Nutzungsdauer abgerissen werden."
Die Deutsche Bahn AG will sich nicht zu dem Thema äußern. "Das Bahnsteighöhenkonzept ist eine Initiative des Bundes", heißt es lapidar auf eine schriftliche Anfrage an die Konzernzentrale.