sozial-Politik

Sozialstaat

Interview

Politikwissenschaftler: Wohlfahrtspflege sollte stärker auf Prävention setzen




Wolfgang Schroeder
epd-bild/David Ausserhofer
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder warnt vor den sozialen Risiken einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung, in deren Zentrum die Digitalisierung steht. Die Wohlfahrtspflege sollte Menschen, die in diesem rasanten Prozess nicht mitkommen, gezielt stärken, um sich in dieser neuen Welt besser zurechtzufinden.

Wolfgang Schroeder plädiert für einen Wandel des deutschen Sozialstaates. Er sollte mehr in die frühe Förderung und die Qualifikation von Menschen investieren. "Soziale Arbeit ist ein Trampolin für neue individuelle Perspektiven", sagte der Kasseler Politikwissenschaftler und frühere Staatssekretär im Interview. Die Wohlfahrtspflege sei gefordert, auf dem Feld der Prävention "neue und bessere Lösungen anzubieten". Mit Schroeder sprach Markus Jantzer.

epd sozial: Herr Professor Schroeder, jeder dritte Euro, der in Deutschland erwirtschaftet wird, fließt in den Sozialstaat. Dennoch ist die Bevölkerung laut Umfragen mehrheitlich der Auffassung, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht. Was stimmt hier nicht?

Wolfgang Schroeder: Das von ihnen beschriebene Paradox hat seine Wurzeln in einem Prozess der Entkopplung von wirtschaftlichen und sozialen Effekten. Konkret gesprochen: Trotz gesamtwirtschaftlichem Erfolg kommt es in Deutschland seit einigen Jahren nicht zu einem Abbau der sozialen Ungleichheit. Das ist die Lage, in der sich die Bundesrepublik befindet. Zwar ist die statistisch messbare Ungleichheit seit 2005 nur in geringem Maße gewachsen, aber sie ist trotz eines vergleichsweise starken und vor allem langen Wachstums des Exportweltmeisters auch nicht kleiner geworden. In einzelnen Bereichen wie bei der Kinderarmut und bei den Alleinerziehenden hat sich die Lage sogar deutlich verschlechtert. Auf die Herausforderungen der neuen sozialen Risiken ist weder unsere Gesellschaft noch der Sozialstaat bisher hinreichend eingegangen.

epd: Einrichtungen und Dienste, die soziale Arbeit leisten, werden von Kritikern abschätzig als Reparaturbetriebe einer Ellenbogengesellschaft beurteilt? Was antworten Sie auf eine solche Charakterisierung?

Schroeder: Da ist schon etwas dran. Denn wären die Verhältnisse gerechter, dann bräuchte es viele der Aktivitäten der sozialen Arbeit nicht. Zugleich haben die Einrichtungen der sozialen Dienste den Anspruch, weitaus mehr als Reparaturbetriebe zu sein. Sie wollen die Basis für eine kooperative Gesellschaft sein. Wenn Kinder von Anfang gefördert werden, dann ist das nicht Reparatur, sondern Ermöglichung. Soziale Arbeit ist ein Trampolin für neue individuelle Perspektiven.

epd: Die Gesellschaft steht aufgrund von Überalterung, Migration und einer zunehmenden Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen massiv unter Druck. Wie lässt sich eine Überforderung des Sozialsystems verhindern?

Schroeder: Der wirksamste Schutz gegen Überforderung in unserem Sozialsystem ist gute Erwerbsarbeit. Denn unser Sozialstaat baut finanziell und programmatisch primär auf Erwerbsarbeit auf. Übrigens ist unser Problem nicht die Überalterung, sondern die unzureichende Verjüngung. Der Jahrgang 1964 ist etwa 1,2 Millionen Menschen stark; heute umfasst ein Altersjahrgang nur noch etwa halb so viele Menschen.

epd: Wie kann die Sozialbranche neue Herausforderungen bewältigen, ohne bisherige Aufgaben zu vernachlässigen?

Schroeder: Ein guter Sozialstaat verändert sich und wächst mit dem Wandel der Gesellschaft. Daran wird auch deutlich, dass der Sozialstaat nicht einfach Reparatur ist, sondern ein ermöglichender Teil einer modernen, komplexen Gesellschaft. Das Ziel des Sozialstaates ist ja neben dem Schutz – was am ehesten in Richtung Reparatur geht – die Beteiligung und die Förderung. Beispielsweise kann die Förderung familien- und kinderfreundlicher Strukturen dazu beitragen, dass Männer und Frauen eine partnerschaftliche Beziehung leben.

epd: Wie gelingt es im Zusammenwirken mit Wohlfahrtseinrichtungen, Menschen vor drohender Prekarisierung und Ausgrenzung zu bewahren?

Schroeder: Grundsätzlich sollte unser Sozialstaat so früh und so intensiv wie möglich Menschen fördern. Droht jedoch der individuelle Absturz, dann ist das engagierte Zusammenwirken verschiedener Akteure wichtig, um Schlimmeres zu verhindern und neue Perspektiven aufzumachen. Häufig ist dies gar nicht so einfach, weil die dafür benötigten Akteure meist verschiedenen Hilfs- und Fördersystemen angehören: Beispielsweise bewegen sich die Schulsozialarbeiter zwischen Jugendhilfe und Schulamt.

epd: Wie bewerten Sie die präventive Sozialarbeit der konfessionellen Wohlfahrtseinrichtungen? Wo müssen sie besser werden?

Schroeder: Die konfessionellen Wohlfahrtsverbände haben schon einiges auf die Beine gestellt für die neue Sozialpolitik – sowohl programmatisch wie als auch projektorientiert. Programmatisch durch die Aufnahme des Befähigungsansatzes. Projektorientiert, indem sie sich darum kümmern, eine bessere individuelle Förderung zu gestalten, die alte eingetretene Pfade verlässt. Manchmal sind sie proaktiv, so dass sich die kommunale Sozialpolitik daran ein Beispiel nehmen kann. Manchmal sind sie auch zu zögerlich, zu wenig ambitioniert und zu reaktiv, um neue und bessere Lösungen anzubieten.

Von den Wohlfahrtsverbänden kann die Gesellschaft nicht nur angesichts ihrer Größe und Bedeutung soziale Innovationen erwarten. Zudem haben sie in den sozial-moralischen Programmen ihrer Herkunftsorganisationen, also der Kirchen, ja durchaus auch eigene Motivationen und internationale Einbindungen, aus denen sie Impulse beziehen könnten, um besser zu werden und innovativer zu wirken.

epd: Menschen ohne eine fundierte berufliche Qualifikation haben – anders als noch vor 30 Jahren – fast keine Chance, dauerhaft einer auskömmlichen Erwerbsarbeit nachzugehen. Für sie ist sozialer Abstieg eine ernste Gefahr. Was ist zu tun? Und welche Rolle sollte hier die Sozialbranche einnehmen?

Schroeder: Ganz zentral ist die Motivation und der Aufbau von Qualifikationen: Es geht also darum, zu ermutigen und zu aktivieren, damit sich Menschen etwas trauen. Neben der Ermutigung kann eine sozialräumlich angelegte Sozialarbeit die Menschen auch aus ihrem Umfeld heraus an bestimmte neue Herausforderungen heranführen. Wer einen Hochschulabschluss hat, läuft zu etwa drei Prozent Gefahr, arbeitslos zu werden. Mit Berufsabschluss liegt dieser Wert bei fünf Prozent und ohne Abschluss bei 20 Prozent. Qualifikationen sind aber ein sehr komplexes Problem.

epd: Die digitale Revolution durchdringt das Arbeitsleben, aber auch unser Privatleben und unsere sozialen Beziehungen. Wer nicht mitkommt, wird abgehängt. Wie können hier, auch mit Hilfe der Wohlfahrtspflege, gesellschaftlicher Ausschluss und Elend verhindert werden?

Schroeder: Da befinden wir uns noch am Anfang. Die Chancen sind offensichtlich, die Gefahren scheinbar weniger. Dabei können sie die Gesellschaft in einer nicht gekannten Weise polarisieren. Wie das zu verhindern wäre, ist unklar. Klar ist aber, dass alle mit anpacken müssen. Da geht es um Arbeitsplätze, Qualifikationen, Entgrenzungen, faire und nicht Hass schürende Kommunikation, aber auch um datenschutzrechtliche Fragen. Eine vernetzte, immer transparentere Gesellschaft gefährdet auch ihre freiheitlichen Grundlagen. Und sie kann die Individuen überfordern. Die Wohlfahrtspflege sollte Menschen, die in diesem rasant beschleunigten Prozess nicht mitkommen, unterstützen, um sich besser zurechtzufinden. Um sie zu unterstützen, kann die Wohlfahrtspflege an der Lebensführung ansetzen, Schwellenängste überwinden und durch niedrigschwellige Angebote dazu beitragen, dass Menschen sich in der digitalen Gesellschaft selbstbewusster bewegen.

epd: Welche Verbesserungen der Infrastruktur sind erforderlich, um Menschen in ihrem direkten Lebensumfeld besser zu erreichen?

Schroeder: Es geht nicht nur um bessere und freie Internetzugänge. Das ist lediglich die technische Seite. Es geht vor allem um die soziale Dimension, also um eine bessere Beratung, um Coaching und Empowerment. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es in Deutschland mit der Digitalisierung so ähnlich läuft wie in der Bildungsfrage: Dass nämlich der Zugang zur digitalen Kompetenz so wirkt, dass sich am Ende die Spaltung der Gesellschaft vertieft.

epd: Wie beurteilen Sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Ländern? Was können wir vom Ausland in Bezug auf Achtsamkeit, Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement lernen?

Schroeder: Ein besonderes Interesse gilt dabei den nordischen Ländern, wo trotz aller Rückschläge und Fehlentwicklungen, die wir auch dort beobachten können, ein reichlicher Fundus an interessanten Beispielen für soziale Innovationen zu finden ist. Beim Lernen von Partnern geht es ja häufig auch darum, zu verstehen, warum man selbst einen anderen Weg eingeschlagen hat. Das wird nämlich im Vergleich etwas deutlicher, als wenn man nur das eigene Land betrachtet.

Seltener gelingt es, soziale Innovationen eins zu eins zu importieren. Aber gerade im Bereich der Sozialen Arbeit haben wir auch viele Anleihen aus dem angelsächsischen Kosmos bekommen: nicht zuletzt die Ideen und Methoden, die sich mit den Begriffen Empowerment, Gemeinwesenarbeit und sozialräumlicher Ansatz verbinden. Das Lernen von anderen setzt die Einsicht in die Verbesserungsbedürftigkeit der eigenen Institutionen, Verfahren und Praxis voraus und bedarf einer gewissen Neugierde. Das sind auch zugleich wichtige Zutaten, um den Sozialstaat auf Augenhöhe zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Tendenzen weiter zu entwickeln.


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