sozial-Branche

Jugendhilferecht

Interview

"Reform des Sozialgesetzbuches VIII bleibt offen"




Marion Schulte
epd-bild/Caritas Münster
Die Reform des "Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG)" sollte eigentlich schon im Januar in Kraft treten. Doch der Bundesrat hat das Vorhaben noch nicht beraten. Das Reformvorhaben liegt auf Eis. Wie es damit weitergeht, ist völlig offen, sagt Marion Schulte vom Diözesan-Caritasverband Münster im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). So bleibe den Fachverbänden immerhin noch Zeit, um für weitere Änderungen an dem Projekt zu werben.

Marion Schulte sieht Licht und Schatten bei der von der noch im Amt befindlichen Bundesregierung geplanten Reform des Sozialgesetzbuches VIII. Sorgen bereiten Schulte vor allem die angedachten Öffnungsklauseln für die Bundesländer im Bereich der Betreuung von jungen Flüchtlingen. Die Länder wollten sparen - und das könnten sie nach der Reform auch tun: "Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind Tür und Tor für eine Zwei-Klassen-Jugendhilfe geöffnet", warnt die Expertin. Mit ihr sprach Dirk Baas.

epd sozial: Der Bundesrat hat im September erneut keine Entscheidung über das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen getroffen. Die Reform liegt auf Eis. Ist das nicht angesichts der vielen Kritikpunkte von Experten nicht eine gute Nachricht?

Marion Schulte: Die Bundesregierung will eine umfassende Reform des Sozialgesetzbuches VIII, insbesondere mit Blick auf die seit langem geforderte Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen in das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Gleichzeitig sieht das Gesetz aber massive Eingriffe in die Standards der Jugendhilfe vor. Aufgrund der deutlichen Kritik der Fachverbände konnte das ursprüngliche Reformvorhaben abgewehrt wurde. Das bewerten wir zunächst als Erfolg.

epd: Wie ging es dann weiter?

Schulte: Die Bundesregierung hat dann eine "kleine" SGB VIII-Reform vorgelegt, die Experten in einigen Punkten weiterhin Sorgenfalten ins Gesicht schreibt. Dieses erneute Reformvorhaben wurde noch vor der Bundestagswahl im Bundestag verabschiedet und liegt seitdem im Bundesrat zur Entscheidung vor. Am 22. September wurde der Gesetzesentwurf von der Tagesordnung der Länderkammer genommen und wurde bisher nicht wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Der Bundesrat könnte jedoch weiterhin über das Vorhaben auch nach der Konstituierung des 19. Deutschen Bundestages entscheiden.

epd: Rechnen Sie mit einer Wiedervorlage durch die irgendwann agierende neue Bundesregierung?

Schulte: Ob ein künftiges Kabinett dieses Vorhaben noch einmal anfasst, bleibt abzuwarten.

epd: Jetzt herrscht zunächst Stillstand in Berlin. Lässt sich diese Zeit nutzen, um auf die Gesetzesinhalte noch mal in Ihrem Sinne Einfluss zu nehmen?

Schulte: Man muss abwarten, wann und wie der Bundesrat über den Gesetzesentwurf entscheidet. Das Reformvorhaben ist zum jetzigen Zeitpunkt Ländersache. In Nordrhein-Westfalen sind alle fachlichen Argumente mit der Landesregierung ausgetauscht. Die Gespräche werden zwischen der Liga der Freien Wohlfahrtspflege und den Verantwortlichen für die Jugendhilfepolitik weitergeführt.

epd: Und auf Bundesebene?

Schulte: Dort beobachten die Bundesfachverbände weiter das Gesetzgebungsverfahren und bringen sich mit einer abgestimmten Lobbyarbeit aktiv ein. Möglich ist natürlich auch, dass eine neue Bundesregierung sich noch einmal das grundsätzliche Anliegen der umfassenden Reform des SGB VIII vornimmt. Dann wären alle Akteure der Jugendhilfe auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene wieder aufgefordert, sich politisch für eine Weiterentwicklung und den Standarderhalt des jetzigen SGB VIII einzusetzen.

epd: Was genau ist das Ziel des Gesetzes und was gibt es Grundlegendes daran auszusetzen?

Schulte: Die wesentlichen Eckpunkte im Gesetzesentwurf sind die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern und Ärzten mit Blick auf den Kindesschutz, eine wirksamere Heimaufsicht und mehr Schutz von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften. Auch soll die Inklusion als Leitprinzip festgeschrieben und Ombudsstellen neu geschaffen werden.

epd: Klingt doch alles vernünftig...

Schulte: Ja, in einigen Punkten stimmt die Fachwelt mit dem Reformvorhaben überein, insbesondere beim besseren Kindesschutz. Auch die Möglichkeit zur Einrichtung von unabhängigen Ombudsstellen, die Unterstützung und Beratung bei Hilfeansprüchen und in Beschwerdesituationen anbieten, halten wir für eine deutliche Stärkung der Rechte von Betroffenen. Mit Sorge sehen wir aber, dass der Gesetzesentwurf auch Weichenstellungen enthält, die kritisch zu bewerten sind.

epd: Wo lauern Gefahren?

Schulte: Insbesondere sind mit der geplanten Länderöffnungsklausel für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind Tür und Tor für eine Zwei-Klassen-Jugendhilfe geöffnet. Der Gesetzgeber will den Ländern eigene Steuerungsmöglichkeiten für die Betreuung und Versorgung dieser jungen Menschen einräumen. Das wird in einigen Bundesländern zu einem Standardabbau führen. Und wir befürchten, dass durch die Regelungen zur Aufsicht der Einrichtungen der Erziehungshilfe durch die Landesjugendämter die bisher auf Vertrauen und Dialog basierende Zusammenarbeit negativ beeinflusst wird. Hier bleibt aber abzuwarten, wie die Landesjugendämter mit diesem neu formulierten Auftrag im operativen Geschäft umgehen.

epd: Was bedeutet die Anwendung der Öffnungsklauseln ganz konkret für die Jugendhilfe vor Ort?

Schulte: Sollte die Bundesregierung Länderöffnungsklauseln zukünftig verstärkt in den Gesetzgebungsverfahren nutzen, sehen wir darin die Gefahr, dass dies bundesweit zu unterschiedlichen gesetzlichen Ausführungsbestimmungen und damit zur Schwächung des bisher leistungsstarken SGB VIII führt. Je nach Kassenlage können die Bundesländer von der mit Öffnungsklauseln verbundenen neuen Steuerungsmöglichkeit zulasten der Hilfeempfänger Gebrauch machen. Für die Kinder, Jugendlichen und ihre Familien hätte das zur Folge, dass ihre Leistungsansprüche nicht in allen Bundesländern gleich sind. Die Qualität der Hilfen zur Erziehung ist dann vom Wohnort abhängig. Unter Umständen ist damit eine Ungleichbehandlung im vorprogrammiert.

epd: Wo gibt es weiteren Korrekturbedarf?

Schulte: Vor allem beim Thema Inklusion. Hier erwartet die Fachwelt, auch vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, konkrete gesetzliche Regelungen zur Umsetzung dieser Herausforderung von Jugendhilfe und Behindertenhilfe unter einem Dach. Doch der vorliegende Gesetzentwurf erhält lediglich Leitprinzipien. Konkrete Handlungsoptionen fehlen komplett. Das macht deutlich, dass wir noch weit von einer inklusiven Gesellschaft entfernt sind.

Marion Schulte ist Referentin für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe im Diözesan-Caritasverband Münster.

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