sozial-Branche

Koalitionsvertrag

Interview

"Erste Abkehr von der Ökonomisierung des Gesundheitswesens"




Nadja Rakowitz
epd-bild/VdÄÄ
Die Bürgersicherung als Kernprojekt der SPD kommt zwar nicht. Für endgültig gescheitert hält der Verein der demokratischen Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ) den Reformplan jedoch nicht. Die massiv steigenden Kosten in der Beihilfe für Beamte könnten noch ein Umdenken erzwingen, sagte Geschäftsführerin Nadja Rakowitz im Gespräch mit dem epd. Sie wirbt weiter für die klassenlose Medizin und sieht im Koalitionsvertrag gar "eine Sensation".

Die Medizinsoziologin begrüßte die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Gesundheitskosten. Dass fast alle anderen Ärzteorganisationen gegen die Bürgerversicherung getrommelt hätten, kritisierte Rakowitz. Viele Ärzte hätten Angst vor sinkenden Einnahmen gehabt: "Vernünftige Argumente haben sie zumindest nicht." Die soziale Verantwortung der Ärzteschaft, zur Verwirklichung gleicher Lebens- und Entwicklungschancen für Alle beizutragen, werde verdrängt, rügte die Geschäftsführerin. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Ihr Verein hat einzige bundesweite Ärzteorganisation vehement für die Einführung einer Bürgerversicherung geworben. Wie tief sitzt die Enttäuschung darüber, dass diese grundlegende Finanzierungsreform nun nicht kommt?

Nadja Rakowitz: Enttäuschung ist der falsche Begriff. Dazu hätten wir vorher Vertrauen in die SPD gehabt haben müssen.

epd: Hatten sie aber nicht...

Rakowitz: Ehrlich gesagt, haben wir von der SPD nicht viel anderes erwartet. Die Erfahrungen der letzten 100 Jahre Parteigeschichte lassen mich nicht optimistisch sein. Dass CDU/CSU der interessierten Ärztelobby und Versicherungswirtschaft mehr zugeneigt sind als der Bevölkerungsmehrheit, überrascht auch nicht.

epd: Damit ist das Thema vermutlich für Jahre vom Tisch?

Rakowitz: Da bin ich mir nicht so sicher. Das Modell der Privaten Vollversicherung könnte bald von einer anderen Seite unter Beschuss kommen: 50 Prozent der Privatversicherten sind Beamte. Vergangenes Jahr war in der IGES-Studie der Bertelsmann Stiftung zu lesen, dass der Staat Millionen sparen könnte, wenn Beamte überwiegend gesetzlich krankenversichert wären. Demnach würden sich die jährlichen Kosten des Staates für Beihilfezahlungen an Beamte bis 2030 auf 20 Milliarden Euro fast verdoppeln. Bei der geltenden Schuldenbremse könnte es durchaus möglich sein, dass der Staat seine Beamten künftig gesetzlich versichert. Erste Ansätze dafür gibt es bereits in Hamburg. Wenn das Schule machen würde, wäre das das Ende der Privaten Krankenversicherung.

epd: Nach Ihrer Auffassung muss die Klassenteilung der Versicherten nach wie vor abgeschafft werden. Was genau hätte der Patient davon?

Rakowitz: Zunächst einmal sind wir als Demokraten und Demokratinnen für die Gleichheit und gegen jede Klassenteilung der Gesellschaft. Da die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft sich durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte noch verschärft hat, sollen die Menschen nicht auch noch beim Zugang zur gesundheitlichen Versorgung bestraft werden.

epd: Das heißt konkret?

Rakowitz: Wir stehen für einen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle hier lebenden Menschen. Deshalb wollen wir, dass alle in der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Es gäbe dann keine unterschiedlichen Wartezeiten mehr, aber auch keinen ökonomischen Anreiz mehr für Ärztinnen und Ärzte und Krankenhäuser, privat Versicherte mit mehr zu versorgen als medizinisch notwendig und sinnvoll ist. Auch würden dann für alle Leistungen die Kontrollmechanismen des Gemeinsamen Bundesausschusses gelten und nicht mehr der unkontrollierte Wildwuchs von manchmal auch fragwürdigen Leistungen, wie wir ihn heute bei den privat Versicherten haben.

epd: Bundesärztekammer, Virchow-Bund und Marburger Bund haben alle medialen Felder bespielt, um die Bürgerversicherung zu verhindern. Wie erklären Sie sich die massive Ablehnung der SPD-Pläne? Ist das alleine mit der Angst vor sinkenden Einnahmen zu erklären?

Rakowitz: Größtenteils ist es sicher die Angst vor sinkenden Einnahmen. Vernünftige Argumente haben die Ärzte zumindest nicht. Die soziale Verantwortung der Ärzteschaft, zur Verwirklichung gleicher Lebens- und Entwicklungschancen für Alle beizutragen, wird verdrängt.

epd: Wie kommt das?

Rakowitz: Die organisierte Ärzteschaft begreift das Gesundheitswesen traditionell als Selbstbedienungsladen. Am liebsten wäre es ihnen, wenn sie wieder zurück zu den Zeiten der Einzelleistungsvergütung gehen könnten. Ihre Einkommensvorstellungen sind nicht selten vollkommen losgelöst von den Einkommen der Patienten, die sie behandeln. Außerdem wollen sie sich nicht kontrollieren oder regulieren lassen – sie empfinden das als Einschränkung ihrer "Therapiefreiheit". Dabei kann Therapiefreiheit nur bedeuten, die Erkenntnisse evidenzbasierter Medizin klug auf den Einzelfall anzuwenden, um die bestmögliche Therapie herauszufinden und nach Möglichkeit zu verwirklichen.

epd: Hat der Einfluss der Reformgegner bewirkt, dass die Union bei der Finanzierung des Gesundheitswesens alles beim Alten lässt?

Nadja Rakowitz: Ich war nicht dabei bei den Verhandlungen, aber es ist anzunehmen, dass die Unionsparteien mehr auf die Ärzteschaft hören. Aber laut Koalitionsvertrag wollen sie ja nicht wirklich alles beim Alten lassen: Die paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird wieder eingeführt und damit die eingefrorenen Arbeitgeberbeiträge wieder "aufgetaut". Die Arbeitgeber müssen sich also in Zukunft wieder an allen Steigerungen der Ausgaben beteiligen.

epd: Knapp sechs Seiten des Koalitionsvertrages thematisieren die Pläne zur Zukunft von Pflege und Gesundheit. Wie fällt ihr generelles Urteil aus und wo sehen Sie wegweisende Schritte?

Nadja Rakowitz: Der am meisten wegweisende Schritt ist die geplante Einführung von gesetzlichen Personalquoten in der Pflege und die Änderung der Krankenhausfinanzierung dahingehend, dass die Ausgaben für Pflege aus den DRG herausgenommen und auf eine eigenen Säule gestellt werden. Das ist eine Sensation, denn das unterhöhlt die Konkurrenzlogik der Fallpauschalenabrechnung (DRG) massiv. Das ist, mindestens in diesem Bereich, als Abkehr vom Ökonomisierungskurs in der Gesundheitspolitik zu sehen.

epd: Warum ist das eine Zäsur?

Rakowitz: Endlich sieht man hier wieder Regelungsbedarf und glaubt nicht mehr, dass man das Verhältnis der Anzahl von Pflegekräften und Patienten dem „Markt“ überlässt. Klar: Wir wissen noch nicht, wie diese Quoten aussehen werden und auch nicht, wie sie finanziert werden. Hier müssen wir nun den Druck weiter erhöhen, dass dabei auch gute Lösungen herauskommen. Überhaupt muss hier gesagt werden, dass dies alles nur zustande gekommen ist, weil die Pflegekräfte in den Krankenhäusern so wacker gekämpft haben für mehr Personal, weil sie gestreikt und Aktionen gemacht haben, die von der Politik nicht mehr ignoriert werden konnten. Das ist der richtige Weg, die Gesundheitspolitik zu ändern.

epd: Die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der GKV ist laut SPD ein großer Erfolg. Die finanzielle Entlastung der Bürger ist doch eher gering?

Nadja Rakowitz: Das kommt darauf an, wie viel Geld Sie verdienen. Für die vielen Menschen im Niedriglohnsektor bedeutet das schon etwas. Aber es geht ja auch nicht nur um die aktuelle Verschiebung vom Arbeitnehmer auf den Arbeitgeber, sondern darum, dass die Arbeitgeber nun wieder bei allen Ausgabensteigerungen mit im Boot sind.

epd: Arbeitsgruppen werden eingesetzt, etwa um die sektorenübergreifende Versorgung auszubauen, sowie um die Honorare der Ärzte zu reformieren. Was erwarten Sie von diesen Runden?

Nadja Rakowitz: Ich hoffe, dass bei der Honorierung nicht das herauskommt, was durch die Medien gegangen ist: dass nämlich die Honorare der Gesetzlichen Versicherung erhöht werden.

epd: Aber war das nicht der Plan?

Rakowitz: Das würde an der Ungleichbehandlung der GKV- und PKV-Versicherten gar nichts ändern, aber die Ausgaben der GKV und damit die Beiträge der GKV-Versicherten erhöhen. Das muss nun gar nicht sein. Die Idee der Bürgerversicherung war ja, die Einnahmen zu erhöhen durch die Einbeziehung aller Einkommen in voller Höhe und aller Einkommensarten. Das wäre sozial gerecht und würde den Beitragssatz spürbar senken.

epd: Bis die Experten zu belastbaren Ergebnissen kommen, werden wohl Jahre vergehen. Man hat das Gefühl, die künftige Regierung drückt bei Reformen nicht wirklich aufs Tempo?

Nadja Rakowitz: Dazu kann ich nicht viel sagen. Die letzten Jahrzehnte waren die Regierungen nur schnell beim Ökonomisieren des Gesundheitswesens, sinnvolle Reformen gab es dagegen kaum und wenn, dann hat es lange gedauert.

epd: Bleiben wir noch einen Moment bei der Anpassung der Gebühren im Privaten Krankenversicherungssystem. Seit 18 Jahren herrscht dort Stillstand bei der Reform der GOÄ. Wer steht auf der Bremse und welche Rolle sollte hier die neue Regierung spielen?

Nadja Rakowitz: Soweit ich das einschätzen kann, war es in der letzten Legislaturperiode die SPD - und dafür ist sie zu loben. Die neue Regierung sollte die Vernunft walten lassen und das Fass der Bürgerversicherung noch einmal aufmachen. So lange es die nicht gibt, könnte man zum Beispiel alle Beiträge der privaten und gesetzlich Versicherten in einen Topf, nämlich den Gesundheitsfonds, fließen lassen und dann alle Leistungen einheitlich bezahlen. Nur müsste man dann natürlich berücksichtigen, dass es bei der PKV praktisch keine Qualitätssicherung gibt, auch gibt es keine Mengen oder Budgetvorgaben. Das müsste man wahrscheinlich auch ändern.

epd: Die Krankenhausvergütung soll geändert werden. Künftig will die Regierung eine Kombination von Fallpauschalen und der Vergütung der Pflegepersonalkosten. Klingt nach einem ähnlichen dicken Brett wie die Reform der GOÄ?

Nadja Rakowitz: Das mag sein. Aber anders als bei der GOÄ ist bei der Vergütung der Pflegepersonalkosten für Patienten und Beschäftigte viel zu gewinnen. Mehr Personal wird allerdings mehr Geld kosten. Also wird man nach Wegen suchen müssen, dass die Bundesländer endlich höhere Mittel für Investitionen in den Krankenhäusern bereitstellen. Und man muss einen Weg finden, die finanziellen Anreize für unnötige Krankenhausbehandlungen zu minimieren. Sie sind Körperverletzung und Geldverschwendung gleichzeitig. Wenn man dieses Übel an der Wurzel packen will, muss man das DRG-System durch eine bedarfsgerechte Krankenhausfinanzierung ersetzen. Das ist dann ein wirklich dickes Brett.

epd: Die Letzte Frage betrifft die Organspende. Vorgesehen ist, die Transplantationsbeauftragten in den Kliniken künftig verbindlich von anderen Aufgaben freizustellen und die Organentnahme höher zu vergüten. Sind das die richtigen Hebel, um mehr Organe übertragen zu können? Oder muss nicht doch über die Einführung der umstrittenen Widerspruchslösung diskutiert werden?

Nadja Rakowitz: Wir lehnen die Ökonomisierung für das Gesundheitswesen ab. Eine Kopfprämie für Organspender ist doch eine moralisch widerwärtige Vorstellung. Nüchtern betrachtet treibt sie die DRG-Systemlogik im Grunde aber nur auf die Spitze. Organspende ist gesellschaftlich akzeptiert und ist damit als förderungswürdig anzusehen.

epd: Das stimmt wohl, aber wie ist Lage in den Kliniken?

Rakowitz: Die Krankenhäuser stehen unter hohem Kostendruck, so dass es betriebswirtschaftlich vernünftig ist, nur solche Aufgaben mit Sorgfalt zu erledigen, die auskömmlich vergütet werden. Also ist es im DRG-System sinnvoll, für Organspende mehr finanzielle Ressourcen bereitzustellen. Ein Paradigmenwechsel von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung würde auf jeden Fall eine breit angelegte gesellschaftliche Diskussion voraussetzen. Ich fürchte, dass selbst nur eine Diskussion über diese Frage die Bereitschaft der Menschen zur Organspende weiter vermindern könnte.


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