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Genossenschaften

Bankier der Barmherzigkeit




Friedrich Wilhelm Raiffeisen
epd-bild/Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft
Aus einem armen Bauernsohn aus dem Westerwald wurde ein vielbeachteter Sozialreformer: Auf den überzeugten evangelischen Christen Friedrich Wilhelm Raiffeisen geht die Genossenschaftsidee zurück. Sein Erfolgsmotto gilt bis heute: "Was einer nicht alleine schafft, das schaffen viele." Vor 200 Jahren wurde er in Hamm an der Sieg geboren.

Die "Koblenzer Volkszeitung" würdigte Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) in ihrem Nachruf als einen "niemals ausgerufenen König im sozialen Reiche". Das klingt in heutigen Ohren arg pathetisch, doch übertrieben ist die Würdigung nicht: Er und sein Berliner Zeitgenosse Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883) schrieben Sozialgeschichte: Sie erdachten und erprobten Genossenschaften, die bis heute Konjunktur haben. Weltweit leben und arbeiten in mehr als 100 Ländern über eine Milliarde Menschen selbstbestimmt miteinander.

Raiffeisens Devise bei der Gründung von Hilfsvereinen, und später den Genossenschaften, lautete "alle für einen, einer für alle." Werde dieses Prinzip umgesetzt, dann lasse sich, so die tiefe Überzeugung des zutiefts christlichen Reformers, "die irdische Wohlfahrt und die himmlische Glückseligkeit" erreichen.

"Liebe erweckt Gegenliebe, Dank und Anerkennung auf der einen, Opferwilligkeit und Freude auf der anderen Seite, führt zu einem freundelichen Verhältnis von Arm und Reich (...) und zur Beseitigung der herrschenden Noth- und Missstände", schrieb Raiffeisen einst und outete sich als sozialkonservativer Denker. Denn man kann darin den Versuch sehen, weitergehende Ansprüche der Armen gegen die herrschende Elite mit Mildtätigkeit bereits im Keim zu ersticken.

Sohn armer Bauern

Wer war dieser hochverehrte Mann aus der preußischen Provinz, der auf historischen Bildern unter streng gescheitelten kurzen grauen Haaren freundlich, aber entschlossen durch eine Nickelbrille schaut?

Geboren wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen 30. März 1818 in Hamm an der Sieg als Sohn eines in sehr bescheidenen Verhältnissen lebenden Landwirtsehepaares. Er war das drittjüngste von neun Kindern. Nach dem Besuch der Volksschule wurde der Junge vom strengen aber charismatischen Pfarrer Georg Wilhelm Heinrich Seippel in neueren Sprachen, Mathematik und Geschichte weiter unterrichtet. Der Geistliche war es wohl, der als Patenonkel seinem Zögling den christlichen Glauben zum lebenslangen Antrieb machte. Er legte ein dauerhaft belastbares Fundament: Raiffeisen sah sich später als Gottes "schwaches Werkzeug" und seine Arbeit als das biblisch gebotene "Trachten nach dem Reiche Gottes".

Vom Soldaten zum Verwaltungsbeamten

Raiffeisen wurde Soldat der preußischen Armee, doch die Karriere endete wegen eines chronischen Augenleidens abrupt. Der Reformer war zweimal verheiratet, von sieben Kindern starben drei noch im Kindesalter.

1845 wurde er nach bestandener Verwaltungsfortbildung Bürgermeister im Örtchen Weyerbusch im Westerwald, einer Samtgemeinde mit 25 Dörfern, wo er neben Schulen auch in den Straßenbau investierte, um den Bewohnern bessere Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte zu schaffen. Heute zeichnet die "Historische Raiffeisenstraße" den Lebensweg des Jubilars an seinen Wirkungsstätten nach und führt rund 40 Kilometer von Hamm an der Sieg über Altenkirchen nach Heddesdorf.

Der neue Verwaltungschef stieß in Weyerbusch täglich auf Not und Verschuldung: Eine Spätfolge der preußischen Reformen zur Bauernbefreiung 1807. Das Ende der Feudalordnung befreite die bäuerliche Bevölkerung zwar von der Abgabe von Naturalien an die Grundherren. Doch jetzt mussten sie betriebswirtschaftlich denken und handeln - was viele schlicht überforderte.

Selten hatten die Bauern und Tagelöhner Geld in der Hand - und deshalb auch keine Erfahrung damit. Sie waren leichte Beute für Wucherer. Nach zwei schlechten Erntejahren in Folge verschärfte sich die Situation 1846 dramatisch. Raiffeisen rief den "Weyerbuscher Brodverein" ins Leben. Der "Konsumverein" verteilte zunächst nur Lebensmittel, dann kümmerte er sich um den gemeinsamen Bezug von Saatgut und Kartoffeln - gelebte Hilfe zur Selbsthilfe.

Raiffeisen ließ zudem ein Backhaus errichten und stellte einen Bäcker zur Versorgung des Dorfes an. Das dort gebackene Brot wurde entgegen der Anweisung des zuständigen Landrates nicht gegen Barzahlung, sondern auf Schuldschein an Bedürftige abgegeben.

Reiche Bürger zogen nicht mehr mit

Doch die betuchte Klientel weigerte sich später zunehmend, ihr Kapital für mildtätige Zwecke bereitzustellen. Ein Grund dafür lag in der von Raiffeisen hartnäckig verteidigten vereinsrechtlichen unbeschränkten Haftung. Die abschreckende Wirkung scheint nachvollziehbar: Musste doch ein Mitglied für sämtliche Verbindlichkeiten des Vereins haften, wenn etwa ein Gläubiger auf Zahlung klagte. Doch das Prinzip bewährte sich: Zu Raiffeisens Lebzeiten ging kein einziger Verein bankrott.

1848 wurde Raiffeisen Bürgermeister in Flammersfeld mit 33 Einzelgemeinden. Dort gründete er den "Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirthe". Damit verfolgte Raiffeisen ein ganz spezielles Anliegen: Er machte mit der Vergabe zinsgünstiger Kredite die Bauern vom wucherischen Geldverleih unabhängig.

1852 zog er in das Rathaus von Heddesdorf ein, das heute zu Neuwied gehört. Raiffeisen war nun nach eigenen Worten für "fünf Pfarreien, vierzehn Gemeinden und 9.000 Seelen" zuständig. Auch an seiner letzten Wirkungsstätte setzte Raiffeisen mit Unterstützung von reicheren Bürger wieder auf einen Zusammenschluss zur Selbsthilfe: Der "Heddersdorfer Wohlthätigkeitsverein" dehnte seine Aktivitäten bewusst über die rein wirtschaftlichen Zwecke auf das Gebiet der sozialen Wohlfahrtspflege aus. Die Kreditvergabe ermöglichte den Straßenbau, den Aufbau einer Volksbibliothek, eine bessere Betreuung von Strafentlassenen sowie die Versorgung verwahrloster Kinder.

Im Dauerstreit mit Schulze-Delitzsch

Mit dem Politiker und Mitbegründer des Genossenschaftsgedankens, Herrmann Schulze-Delitzsch, fand Raiffeisen zeitlebens keine gemeinsame Linie, auch, weil der Politiker vor allem kleine Handwerker und Händler unterstützte. Uneins waren sich die beiden Vordenker auch in der Frage der Höhe von Mitgliedsbeiträgen, Wegen zur Kapitalbildung, bei Rückzahlungsfristen und der für Raiffeisen unverrückbaren Verankerung christlich-ethischer Grundwerte in den Genossenschaften.

Nach anfänglich sehr erfolgreicher Arbeit bekam Raiffeisens Konzept Risse: Er musste erkennen, dass Wohltätigkeit und die von ihm immer wieder betonte christliche Nächstenliebe keine nachhaltige Basis für seine Vereine bot. "Mit der Annahme, die Begüterten würden sich als Brüder in Christus auch weitergehend und direkter als durch das Medium Geld den Geringen zuwenden, war Raiffeisen fehlgegangen", urteilt sein Biograf Michael Klein. Er steuerte um und wandelte 1864 den bestehenden Verein in den "Heddesdorfer Darlehenskassen-Verein" mit Sparkasse um, der sich allein auf Geldgeschäfte konzentrierte - die erste Kreditgenossenschaft in Deutschland und der Vorläufer der Volksbanken und Raiffeisenbanken.

Wechselseitige Solidarität als Antrieb

In den stets ehrenamtlich verwalteten Darlehenskassen-Vereinen waren fortan sowohl Kreditnehmer wie auch Kreditgeber Mitglieder. Raiffeisen stärkte damit die wechselseitige Solidarität: Der Kreditnehmer von heute konnte der Kreditgeber von morgen sein.

1865 musste Raiffeisen nach fast völliger Erblindung frühzeitig in Pension gehen. Frei von Amtspflichten und unschätzbar unterstützt von seiner ledigen Tochter Amalie, trieb er trotz seiner Behinderung seine karitativen Projekte weiter voran. In den Genossenschaften sah er laut Klein "Vorfeldarbeiten, die eine religiös-ethische Beeinflussung der Menschen erst möglich machten".

Erste weitere Verbreitung fanden seine Ideen ab 1866, nachdem Raiffeisens Buch "Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter" erschienen war - ein praxisnaher Erfahrungsbericht mit Hilfen zur praktischen Umsetzung. Der Ratgeber fand rege Verbreitung und erschien bis 1888 in fünf erweiterten Auflagen. Die Saat ging auf: Schon 1868 gab es in der Rheinprovinz 75 Darlehenskassen-Vereine, an die sich meist auch Warenbezugs- und Absatzzentralen anschlossen.

Raiffeisens Idee war da längst in der Welt - und setzte ihren Siegeszug fort. Allein in Deutschland gibt es heute rund 8.000 Genossenschaften mit fast 23 Millionen Mitgliedern. Raiffeisens Idee des genossenschaftlichen Wirtschaftens gehört seit 2016 zum Immateriellen Weltkulturerbe. Zu Recht, wie dessen Biograf Klein anmerkt: Er habe "eine Vision des Wirtschaftens entwickelt, die angesichts des Finanzmarkt-Kapitalismus aufhorchen lässt". Oder, anders formuliert: "Wo das Gemeinwohl wirtschaftlichen Handelns und nicht der Eigennutz im Mittelpunkt steht, ist Raiffeisen nicht fern."

Jahreskampagne preist "Starke Ideen"

Der umtriebige Sozialreformer lebt als Namensgeber fort - auch wenn die wenigsten Kunden der Volks- und Raiffeisen-Banken die Mission des überaus frommen Mannes en detail kennen dürften. Deshalb nutzt auch die Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft die 200. Wiederkehr seines Geburtstages, um den Bekanntheitsgrad des Visionärs zu steigern. Motto der sich über das Jahr erstreckenden Kampagne: "Mensch Raiffeisen. Starke Ideen!"

Laut Werner Böhnke, Vorsitzender des Vereins, üben dessen Ideale auch auf junge Menschen einen starken Reiz aus: "Genossenschaften achten auf Fairness, Transparenz sowie auf eine demokratische Ausrichtung. Das sind jene Werte, die für eine Akzeptanz unserer Wirtschaftsordnung von so ungemeiner Bedeutung sind."

Dirk Baas

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