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Psychotherapeutin warnt vor Abschiebezentren




Elise Bittenbinder
epd-bild/BAfF e.V
Die geplanten Ankerzentren für Flüchtlinge stoßen bei Ärzten und Psychotherapeuten auf Kritik. "Die Kasernierung von Menschen - zumal von traumatisierten Menschen – führt erwiesenermaßen zu erhöhtem psychischem Stress", sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, Elise Bittenbinder, dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Die von der Bundesregierung geplanten Sammelunterkünfte für Flüchtlinge können nach Auffassung der Berliner Psychotherapeutin, Elise Bittenbinder, die Gesundheit der Bewohner ernsthaft gefährden. In den sogenannten Ankerzentren könnten diese Menschen weder neuen Lebensmut noch eine Lebensperspektive entwickeln - beides seien aber bei traumatisierten Menschen Voraussetzungen für einen Heilungsprozess. Mit Bittenbinder sprach Markus Jantzer.

epd sozial: In den vergangenen drei Jahren sind weit mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen sind durch die Ereignisse in ihrem Land oder durch Erlebnisse auf der Flucht traumatisiert. Wie hoch schätzen Sie die Zahl der Flüchtlinge, die psychotherapeutisch behandelt werden müssten?

Elise Bittenbinder: Diese Frage lässt sich nicht genau beantworten. Es gibt Studien, die aufzeigen, dass ein Großteil der Menschen, die geflüchtet sind, traumatisiert sind. Die Angaben schwanken zwischen 20 bis 70 Prozent der Geflüchteten. Meist wird eine Zahl von 40 Prozent angegeben. Aus der Arbeit in den Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer wissen wir, dass sehr viele der hier ankommenden Menschen traumatisiert sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie eine Folgestörung entwickeln werden oder eine psychotherapeutische Behandlung benötigen oder wünschen. Nicht immer bedarf der Heilungsprozess therapeutischer Hilfe.

epd: Wie groß ist die Lücke zwischen Behandlungsbedarf und Behandlungskapazitäten?

Bittenbinder: Die rund 40 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in Deutschland haben jährlich etwa 15.000 Klienten. Davon werden etwa 36 Prozent psychotherapeutisch behandelt, also ungefähr 5.400 Menschen. Im Jahr 2015 mussten im Bereich Psychotherapie bundesweit 40 Prozent mehr Geflüchtete abgelehnt werden, als in die Behandlungsprogramme der Zentren aufgenommen werden konnten. Daher haben die meisten Zentren eine lange Warteliste.

Es darf nicht übersehen werden, dass Folter und Gewalt in einem sozialen Kontext geschieht, der Verletzungen ermöglicht, zulässt oder nicht verhindert. Der soziale und gesellschaftliche Kontext ist extrem wichtig und auch entscheidend, ob Traumata bzw. traumatische Sequenzen fortdauern oder heilen können. Etwa wenn weiterhin eine große Unsicherheit im Leben der Menschen existiert, wenn sie sich bedroht fühlen, angegriffen werden oder eingesperrt werden. Traumatisierte Menschen brauchen zuallererst Sicherheit und Schutz. Wenn sie frühzeitig und gut unterstützt werden, kann Behandlungsbedarf vermieden werden.

epd: Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die von der Bundesregierung geplanten Ankerzentren, in denen Flüchtlinge bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag wohnen sollen?

Bittenbinder: Was wir bislang über die Ankerzentren wissen, führt zu einer großen Besorgnis. Die erzwungene Kasernierung von Menschen ohne sinngebende Beschäftigung – zumal von traumatisierten Menschen – führt erwiesenermaßen zu erhöhtem psychischem Stress. Auf der Basis von ohnehin schon großen psychischen Belastungen kann dies leicht zu sehr ernsthaften psychischen Krisen führen.

Wir wissen nicht, ob die Menschen überhaupt Zugang zu unabhängiger psychosozialer Beratung haben werden, ob deren Therapiebedarfe erkannt und diese so schnell wie nötig in eine Behandlung geführt werden. Darüber hinaus werden diese Zentren auch einen Einfluss auf unsere Gesellschaft und das politische Klima haben. Zivilgesellschaftliches Engagement wird dadurch voraussichtlich unterbunden. Dieses Engagement ist enorm wichtig, um das Selbstheilungspotenzial bei traumatisierten Menschen zu unterstützen.

epd: Was sind die häufigsten Folgen einer ausbleibenden oder zu spät erfolgenden therapeutischen Behandlung?

Bittenbinder: Es kann zu Chronifizierung und zu langwierigen oder sogar lebenslangen psychischen Belastungen führen, die leider auch die nächste Generation betreffen können. Nicht selten sind die Kinder die Leidtragenden, wenn Eltern keinen Weg finden, das Erlebte zu verarbeiten. Ereignisse werden "verschwiegen", um die Kinder nicht zu belasten. Kinder hören auf, Fragen zu stellen, weil sie merken, dass sie die Eltern belasten. Es entsteht eine Atmosphäre des Verschweigens, welches zu nachhaltigen Verstörungen der Kinder führen kann, die dann noch schwieriger zu behandeln sind, weil der Zusammenhang oft für professionelle Helfer – aber auch für die Betroffenen selbst – nicht so leicht erkennbar oder nachvollziehbar ist.

epd: Wie könnten zusätzliche Kapazitäten aufgebaut werden, um die Therapielücken zu schließen?

Bittenbinder: Zu allererst ist ein Mechanismus erforderlich, der die besonders vulnerablen, traumatisierten Menschen frühzeitig identifiziert, sowie geschulte Sozialarbeiter oder Psychotherapeuten, die die Bedarfe feststellen und sie in vorhandene Behandlungsstrukturen oder psychosoziale Hilfen verweisen. Ein solches System würde dafür sorgen, dass Menschen bei Bedarf professionelle psychosoziale Unterstützung erhalten und Menschen, die spezielle psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung benötigen, möglichst umgehend einen Platz bei Therapeuten erhalten. Eine umgehende finanzielle Absicherung und Erweiterung der vorhandenen Psychosozialen Zentren würde einen großen Teil der Lücke schließen können.

Darüber hinaus benötigen wir dringend eine weitere Öffnung der Regeleinrichtungen, also der Kliniken, Sozialpsychiatrischen Dienste und Krisendienste. Diese sind nach wie vor nicht auf die Behandlung von Geflüchteten oder die Arbeit mit Dolmetscher eingerichtet.

epd: Sind Therapeuten in Deutschland zeitlich und fachlich in der Lage, über ihren vorhandenen Kundenstamm hinaus traumatisierte Flüchtlinge aufzunehmen?

Bittenbinder: Was fachliches Wissen um Trauma angeht, sind sie das auf jeden Fall. Das alleine genügt jedoch nicht. Die Arbeit mit Menschen diverser Hintergründe, die extreme Menschenrechtsverletzungen erlebt haben und hier in einem komplexen, für sie rechtlich unsicheren System leben, ist für viele nicht vorstellbar oder einfach eine Neuheit. Aber dafür gibt es viele Schulungen und Hilfsangebote.

Wir erhalten oft Anfragen von Psychotherapeuten, die gerne Geflüchtete behandeln möchten und auch zeitlich dafür die Kapazitäten haben. Aber die Abrechnung der psychotherapeutischen Leistung ist bei Geflüchteten recht kompliziert. Die sogenannte Ermächtigung von Psychotherapeuten wollte dies vereinfachen. Bisher hat diese aber leider nicht das gewünschte Resultat erzielt – nämlich, dass flächendeckend mehr Psychotherapeuten mit traumatisierten Geflüchteten arbeiten.

epd: Welche therapeutischen und ärztlichen Fachgruppen kommen dafür in Frage?

Bittenbinder: Dafür sind grundsätzlich Psychotherapeuten, Fachärzte und Psychiater geeignet, die über ihre Qualifikation hinaus über Wissen im transkulturellen Bereich und über die rechtliche Situation verfügen. Außerdem müssen sie in der Lage sein, mit Dolmetschern zu arbeiten.

epd: Gibt es in Deutschland eine ausreichende Zahl an Dolmetschern?

Bittenbinder: Leider fehlt es an vielen Orten an ausreichend Dolmetschern. Das führt oftmals dazu, dass Familienangehörige oder sogar Kinder bei ärztlichen Terminen das Übersetzen übernehmen – was nicht akzeptierbar ist. Es fehlt hier vor allem an einem Konzept, wie gut qualifizierte Dolmetscher bezahlt werden können.


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