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Behinderung

Hintergrund: Lautsprachlich oder gebärdensprachlich?



Seit Jahrhunderten herrscht ein Methodenstreit in der Gehörlosenpädagogik: Sollen taube Kinder in der Lautsprache oder der Gebärdensprache unterrichtet werden?

Der Streit darüber, in welcher Sprache Gehörlose unterrichtet werden sollen, wurde ironischerweise lange hauptsächlich zwischen Hörenden geführt. Ursprung des Konflikts sind die Unterschiede zwischen der vom Abbé de l’Epée entwickelten gebärdensprachlich orientierten "französischen Methode" und der lautsprachlich ausgerichteten "deutschen Methode" von Samuel Heinicke.

Lange glaubten die Menschen nach Angaben des Gehörlosenverbandes Hamburg, Gehörlose seien bildungsunfähig. "Wer nicht hören und nicht sprechen kann, kann auch nicht denken", soll der Philosoph Aristoteles gesagt haben. Im 16. Jahrhundert wurden trotz dieser Vorurteile erste Ansätze für den Unterricht von Gehörlosen entwickelt. Erste Fingeralphabete und Gebärden waren zuvor bereits von Mönchen entwickelt worden, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten.

Erste Gehörlosenschule 1760 in Paris

Lange wurden gehörlose Kinder hauptsächlich von Hauslehrern unterrichtet, der Unterricht war also wohlhabenden Familien vorbehalten. Im 18. Jahrhundert wurden die ersten Gehörlosenschulen in Europa eröffnet. 1760 gründete der Abbé de l’Epée, ein französischer Theologe und Anwalt, in Paris die erste dieser Schulen in Europa. 18 Jahre später eröffnete der Pädagoge Samuel Heinicke in Leipzig das "Chursächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen".

Während de l’Epée aus natürlichen Gesten und grammatischen Zeichen die erste französische Gebärdensprache entwickelte, betrachtete Heinicke Gebärden als minderwertiges Hilfsmittel. Stattdessen setzte er den Fokus auf das Lernen der richtigen Aussprache der Lautsprache. Dies nahm viel Zeit in Anspruch, der Inhalt musste auf das Nötigste beschränkt werden. Die französischen Schüler erwarben hingegen mit Hilfe von Gebärden und dem Fingeralphabet mehr Wissen, konnten sich aber schlechter mit Hörenden verständigen.

Schon de l’Epée und Heinicke stritten in Briefen um die richtige Methode. Über die Jahre haben beide Lager verschiedene Argumente für die von ihnen bevorzugte Methode gesammelt. Die lautsprachliche Methode sei die einzige Möglichkeit, gehörlose Kinder zur Sprache zu bringen und in die hörende Welt zu integrieren, sagen die einen. Die Gebärdensprache sei besser für den Erwerb von Wissen und die Vermittlung sozialer Normen, sagen die anderen. Darüber hinaus seien Gebärden hilfreich beim Erlernen der Laut- und Schriftsprache.

Eine entscheidende Wende gab es nach Angaben des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser beim Mailänder Kongress von 1880: Bei diesem zweiten internationalen Kongress der Gehörlosenlehrer erlangten die Verfechter der lautsprachlichen Methode einen Sieg. Über ein Jahrhundert lang wurden Gebärden aus dem Gehörlosenunterricht verbannt. Gehörlose waren nicht zum Kongress eingeladen.

Verschiedene Konzepte vereinen

Inzwischen wurden verschiedene Konzepte entwickelt, die beide Ansätze vereinen. Ein Beispiel sind lautsprachbegleitende Gebärden, die parallel zur Lautsprache verwendet werden und bei denen, anders als bei der Gebärdensprache, die Grammatik der gesprochenen Sprache beibehalten wird.

Ein anderes Konzept ist die bilinguale Methode, wie vom Weltverband der Gehörlosen beschrieben: Hierbei wird die Gebärdensprache als Erstsprache und die Lautsprache als Zweitsprache unterrichtet. Gehörlose Kinder sollen sich so in beiden Welten zurechtfinden können - in der Welt der Tauben und der Welt der Hörenden.

Jana-Sophie Brüntjen


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