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Flüchtlinge

Soziologe: "Ankerzentren ändern an der Abschiebepraxis nicht viel"




Albert Scherr
epd-bild/privat
Ob über einem Sammellager für Flüchtlinge "Ankerzentren" steht oder ein anderer Titel, das ist für den Freiburger Soziologen Albert Scherr egal. Er rügt die grundlegenden Elemente deutscher Flüchtlingspolitik, wie etwa die zwangsweise Unterbringungen in Gemeinschaftsunterkünften. Über die Zustände in den Lagern, die Rolle der Bundesländer und rigorosere Behörden sprach der Professor mit dem epd.

Albert Scherr, der auch Mitglied im Rat für Migration ist, kritisiert, dass in Deutschland ein Diskurs "dominant geworden ist, in dem Flüchtlinge vor allem als Bedrohung dargestellt werden, und kaum noch als Menschen, die auf Aufnahme und Schutz angewiesen sind". In der Folge seien in zahlreichen Teilbereichen verschärfte Regelungen im Umgang mit Flüchtlingen durchgesetzt worden, nicht nur in den umstrittenen Ankerzentren, erläutert der Leiter des Instituts für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Sieben Ankerzentren in Bayern, je eins in Sachen und im Saarland. Darf man das Konzept von Minister Horts Seehofer (CSU) als gescheitert ansehen oder tut sich hier noch etwas in den Ländern?

Albert Scherr: Gescheitert ist allein die Idee, eine bundesweit einheitliche Struktur durchzusetzen. Die grundlegende Elemente, das heißt Verlängerung der Aufenthaltsdauern in lagerartigen Sammelunterkünften, Zusammenführung aller Entscheidungsinstanzen sowie gegebenenfalls direkte Abschiebungen aus den Unterkünften, werden aber auch in anderen Bundesländern praktiziert.

epd: Wie bewerten Sie diese Entwicklung? Immerhin ist die Schaffung der Ankerzentren im Koalitionsvertrag vereinbart?

Scherr: In zahlreichen Teilbereichen sind verschärfte Regelungen im Umgang mit Flüchtlingen durchgesetzt. Auch das zunächst sehr umstrittene das Ziel, maximal 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen, ist faktisch durchgesetzt worden, vor allem durch Anwehrmaßnahmen wie die Zusammenarbeit mit der lybischen Küstenwoche und Vereinbarung mit Mali und Niger.

epd: Also hat Seehofer durchaus etwas erreicht?

Scherr: Wäre ich Seehofer, würde ich auf eine beeindruckende Erfolgsbilanz bei der Durchsetzung der eigenen Politik hinweisen sowie darauf, dass man die scheinbaren Abgrenzungen einiger Landesregierungen nicht allzu ernst nehmen muss. Das alles hat damit zu tun, dass ein Diskurs dominant geworden ist, in dem Flüchtlinge vor allem als Bedrohung dargestellt werden, und kaum noch als Menschen, die auf Aufnahme und Schutz angewiesen sind.

epd: Viele Kritiker, darunter die Linkspartei, halten diese Einrichtungen für grundgesetzwidrig. Wie lautet Ihre Einschätzung?

Scherr: Unstrittig ist, dass die zwangsweise Unterbringungen in Gemeinschaftsunterkünften einen erheblichen Grundrechtseingriff darstellt. Das betrifft insbesondere die grundgesetzlich garantierte Freizügigkeit bei der Wahl des Wohnortes und die Freiheit der Berufswahl. Und es gibt deutliche Belege auch dafür, dass in diesen Einrichtungen der Schutz der Privatsphäre und die Unverletzlichkeit der Wohnung faktisch nicht gewährleistet sind.

epd: Also ein Fall für das Bundesverfassungsgericht?

Scherr: Ob dies im rechtlichen Sinne verfassungswidrig ist, ist unklar, auch dass bestimmte Grundrechte nur für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gelten. Deshalb wäre eine Prüfung durch das Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hilfreich.

epd: Es gibt längst funktionsgleiche Lager, die zwar anders heißen, aber auch mehrere Behörden ihre Arbeit unter einem Dach verrichten lassen. Ist das alles nur ein Frage der Etikettierung und wie sind hier die Zustände?

Scherr: Ja, das ist vor allem eine Frage der Etikettierung. Das diese nicht Ankerzentren, sondern zum Beispiel Landeserstaufnahmeeinrichtungen heißen, ist folgenlos, es ist nur eine rhetorische Abgrenzung. Zu den Zuständen in den Einrichtungen haben wir als Rat für Migration eine Expertise vorlegt, in der wir deutlich aufzeigen, was die weitreichenden und entmündigenden Folgen von Lagerordnungen, Kontrollen durch Sicherheitsdienste, Arbeitsverboten, beengter Unterbringung und nicht zuletzt der Angst vor Abschiebungen sind. Zudem ist in vielen Fällen Schulunterricht für Kinder immer noch nicht gewährleistet.

epd: Oberstes Ziel all dieser politischen Bemühungen ist eine schnellere Abschiebung jener Personen, die nicht bleiben dürfen. Haben Sie Erkenntnisse darüber, ob die Verfahren das in Bayern nun tatsächlich schneller werden und auch mehr Abschiebungen erfolgen?

Scherr: Abschiebungen scheitern, auch in Bayern, vor allem aus zwei Gründen: Erstens sprechen die Gerichte in vielen Fällen mit guten Gründen einen Abschiebeschutz aus und erteilen eine Duldung. Zweitens weigern sich Herkunftsländer, bei der Rückführung zusammenzuarbeiten, also etwa Dokumente auszustellen. Daran ändern Ankerzentren nichts. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass Abschiebungen in Bayern, aber etwa auch in Baden-Württemberg, zunehmend rücksichtsloser durchgesetzt werden. Eine humanitäre Rücksichtnahme, zum Beispiel auf die Situation von Kindern und Kranken, oder die Berücksichtung von Gefährdungen in den Zielländern von Abschiebungen, findet kaum noch statt.

epd: Welche Gründe hat das rigorosere Vorgehen der Behörden?

Scherr: In meinen Augen dient wohl es vor allem dazu, eine Politik der harten Hand vorzuzeigen, die bereit, menschliche Schicksale politischen Zielen unterzuordnen. An den tatsächlichen Abschiebezahlen ändert sich aber nicht viel.

epd: Die Einrichtungen gelten vielen Experten als zu groß konzipiert, sie würden mehr Probleme schaffen als lösen. Zu welcher Bewertung kommen Sie?

Scherr: Dieser Einschätzung stimme ich eindeutig zu. Die Probleme nehmen mit der Größe solcher Einrichtungen zweifellos zu, weil der Organisationsaufwand steigt und mögliche Konflikte nicht mehr dadurch reduziert werden, dass die Bewohner einander persönlich kennen.

epd: Kritik gibt es an vielen Zuständen in den Ankerzentren, etwa die fehlende Sicherheit für Frauen und Kinder, die fehlende Beratung und die Sachleistungen. Warum lassen sich die Mindeststandards nicht effektiv verbessern, etwa durch mehr Personal?

Scherr: Zweifellos wäre es möglich, die Beratung durch mehr Personal zu verbessern und auf Sachleistungen weitgehend zu verzichten. So könnte man zum Beispiel Küchen einrichten, in den die Bewohnerinnen und Bewohner selbst kochen können, statt ihnen Essen zuzuteilen. Das scheint aber nicht gewollt zu sein. Denn die Einrichtungen sollen ja auch hinreichend abschreckend wirken.

epd: Was wäre die bessere Alternative der Unterbringung der Menschen und worin lägen die Vorteile?

Scherr: Aus Sicht der Flüchtlinge und im Interesse ihrer sozialen Integration muss es um eine möglichst frühzeitige dezentrale Unterbringung in normalen Wohnungen gehen. Nur so ist eine eigenverantwortliche Lebensführung möglich.

epd: Viele Asylbewerber tauchen aus den vermeintlich streng überwachten Zentren in die Illegalität ab. Haben die Behörden die Lage nicht im Griff?

Scherr: Es ist verständlich, dass mache Flüchtlinge versuchen, sich einer drohenden Abschiebung zu entziehen. Denn sie haben von den Folgen einer Abschiebung mehr zu befürchten als von den schwierigen Lebensbedingungen in der Illegalität. Man wird sie nicht daran hindern können, abzutauchen, solange auf eine Inhaftierung verzichtet wird. Und zweifellos ist es menschenrechtlich und rechtsstaatlich betrachtet höchst problematisch, Menschen allein deshalb zu inhaftieren, weil sie verdächtigt werden, sich möglicherweise eine Abschiebung zu entziehen.

epd: Wäre es nicht sinnvoll, die Bundesländer mit der Abwicklung der Asylverfahren zu betrauen, dann wäre der "Flaschenhals" beim Bundesamt für Migration (BAMF) umgangen?

Scherr: Der Vorteil einer Dezentralisierung der Verwaltungsverfahren des BAMF auf die Ebene von Länderbehörden ist aus meiner Sicht nicht erkennbar. Entscheidend ist hier eine ausreichende Anzahl angemessen qualifizierter Fachpersonen. Allerdings besteht die Gefahr, dass eine Verlagerung auf Länderebene zu unterschiedlichen Verfahrensabläufen und Entscheidungskriterien führen könnte.



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