sozial-Politik

Grundrente

Gastbeitrag

Mehr Respekt bitte für Bezieher der Grundsicherung!




Martin Staiger
epd-bild/privat
Die neue Grundrente, von Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) auch "Respektrente" genannt, stößt beim Sozialexperten Martin Staiger nicht auf ungeteilte Zustimmung. Er kritisiert in seinem Meinungsbeitrag für epd sozial, dass der Staat Beziehern der Grundsicherung im Alter insgesamt respektlos begegnet.

Eine Grundrente für alle, die mindestens 35 Jahre gearbeitet und so wenig verdient haben, dass ihre Rente unter der Grundsicherung liegt. Wer sollte etwas dagegen haben? Wer jahrzehntelang als Kellner in der Pizzeria, als Kassiererin im Supermarkt, als Wachmann im Nachtdienst oder als Friseurin mit mancher Sechs-Tage-Woche tätig war, hat den Respekt der Gesellschaft verdient und sollte im Alter nicht gedemütigt werden. Dieser zweifellos richtige Gedanke ist der Hintergrund der in der großen Koalition diskutierten Grundrente, die auch wahlweise unter den Labeln "Mindestrente" oder "Respektrente" firmiert.

Unangenehmer Gang zum Sozialamt

Das Konzept wirft aber auch Fragen auf. Wie verhält es sich mit dem Respekt Menschen gegenüber, die weniger als 35 Jahre erwerbstätig waren? Haben Rentnerinnen und Rentner, die zehn, 25 oder 34 Jahre und elf Monate gearbeitet, die aus gesundheitlichen Gründen, wegen eines Unfalls oder einer Insolvenz ihren Arbeitsplatz verloren und keinen Einstieg mehr in den Arbeitsmarkt gefunden haben, keinen Respekt verdient? Oder Menschen, die länger auf der Straße gelebt haben, Bürger, die nicht die Fähigkeiten anbieten können, die der Arbeitsmarkt verlangt? Sollen Sie doch zum Sozialamt gehen, wo man "um Almosen bitten" muss, wie ZDF-Moderator Klaus Kleber vor einiger Zeit im "heute journal" gesagt hat. Und sich dort "völlig nackig machen", um Grundsicherung zu bekommen, wie es der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell in der Sendung "Dunja Hayali" ausgedrückt hat! Kleber und Sell brachten damit zum Ausdruck, was allgemein zu beobachten ist: Die Grundsicherung im Alter wird von vielen als eine milde Gnadengabe des Staates betrachtet, die bei den Sozialämtern in einem entwürdigenden Prozedere erbettelt werden muss.

Ein Blick ins Sozialgesetzbuch zeigt jedoch, dass dort die Grundsicherung im Alter klar als Rechtsanspruch und eben nicht als Almosen formuliert ist. Auch gehen die wenigsten Angestellten der Sozialämter mit dem Ziel zur Arbeit, arme Menschen zu schikanieren. Dennoch findet tatsächlich eine Entwürdigung von Menschen statt, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Diese Entwürdigung wurzelt im Gesetz selbst, da die Grundsicherung den Grund eben gerade nicht sichert, sondern für viele Menschen, die auf sie angewiesen sind, zum Abgrund wird.

Regelsätze viel zu niedrig

Mehrere Studien haben gezeigt, dass der Gesetzgeber viel zu niedrige Regelsätze festgelegt hat. Obwohl das Bundesverfassungsgericht 2010 "das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" betont und 2014 den Gesetzgeber aufgefordert hat, bei der Neufestlegung der Regelsätze sehr genau darauf zu achten, dass das Existenzminimum auch wirklich gewährleistet ist, wurde die letzte Regelsatzberechnung in erster Linie unter Kostengesichtspunkten vorgenommen.

Zusätzlich zu den für ein menschenwürdiges Leben nicht ausreichenden Regelsätzen von 424 Euro pro Monat für Alleinstehende und je 382 Euro für Paare haben Grundsicherungsbezieher einen Anspruch auf die Übernahme der Wohnkosten, soweit sie angemessen sind. Viele Kommunen haben jedoch Angemessenheitsgrenzen festgelegt, die deutlich zu niedrig sind. Wer in einer Wohnung lebt, deren Miete über diesen realitätsfernen Obergrenzen liegt, muss entweder in eine billigere und damit oft weit vom bisherigen Lebensmittelpunkt entfernte oder nur äußerst einfach ausgestattete Wohnung umziehen - falls er überhaupt eine andere Bleibe findet. Oder er muss den über der Grenze liegenden Mietanteil aus dem zu niedrigen Regelsatz bezahlen.

So ängstigt und entwürdigt das Gesetz und seine Umsetzung Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Obwohl es nach Paragraf 1 des SGB XII die Aufgabe der Grundsicherung ist "den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht".

Es wäre den Parteien der großen Koalition zu empfehlen, sich auf ihr Menschenbild zu besinnen. Wenn die SPD ihre Vorstellung von Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit wirklich ernst nehmen würde und wenn die C-Parteien das christliche Menschenbild, nach dem jedem Menschen als Ebenbild Gottes unabhängig davon, was er zu leisten imstande ist, eine unveräußerliche Würde zukommt, in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen würden, dann würden sie nicht darüber streiten, welcher Bevölkerungsgruppe unter welcher Voraussetzung der Gang zum Sozialamt erspart werden sollte. SPD und Union würden dann vielmehr dafür sorgen, dass alle Menschen in diesem Land menschenwürdig leben können - únabhängig davon, was sie in ihrem Erwerbsleben leisten oder geleistet haben. Dann könnte man in einem zweiten Schritt überlegen, ob Menschen, die länger gearbeitet haben, besser gestellt werden sollen.

Martin Staiger ist in der sozialrechtlichen Fortbildung von Sozialarbeitern und als Publizist tätig.