sozial-Branche

Wohnungsnot

Gastbeitrag

"Der Staat muss stärker als Bauherr auftreten"




Thomas Beyer
epd-bild/Hans Buttermilch/AWO
Die Debatte über die Enteignung von Wohnungskonzernen ist voll entbrannt. Doch im Kampf gegen Wohnungsnot wird oft übersehen, dass die Datenlage bundesweit schlecht ist. Bayerns AWO-Chef Thomas Beyer fordert deshalb eine Wohnungslosenstatistik. Warum die unabdingbar ist, erläutert er in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

Die Situation ist dramatisch: Obwohl Menschen arbeiten, reicht ihr Lohn oft nicht aus, um eine Mietwohnung zu halten oder eine neue zu finden. Das belegen eindruckvoll folgende Zahlen:

39 Prozent der 2.472 Hilfesuchenden, die sich im Jahr 2018 an die Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit (FOL) des Kreisverbandes München Land der Arbeiterwohlfahrt gewandt haben, gaben als Haupteinkommensart für ihren Haushalt Arbeitslohn an. Dennoch drohte diesen Betroffenen - unter ihnen 591 Kinder - der Verlust der Wohnung.

"Im Vergleich zum Vorjahr ist erkennbar, dass immer mehr Familien mit Arbeitslohn und einer abgeschlossenen Berufsausbildung von Obdachlosigkeit bedroht sind", schreiben in ihrem Jahresbericht die Beratungskräfte der FOL, die im Landkreis München, der auch als Speckgürtel der bayerischen Landeshauptstadt bekannt ist, tätig sind.

Unterschiedliche Gruppen betroffen

Die Bilanz der FOL-Expertinnen und -Experten ist durchaus exemplarisch für den gesamten Freistaat Bayern sowie große Teile Deutschlands, wo beispielsweise in Ballungsräumen und Uni-Städten bezahlbarer Wohnraum massiv fehlt. Von diesem stetig wachsenden Mangel sind nahezu alle Bevölkerungsgruppen betroffen: Studierende, ältere Menschen, anerkannte Geflüchtete, Zugewanderte, Alleinstehende, (Eineltern)-Familien. Sie alle eint: ihr Einkommen reicht in vielen Städten Deutschlands nicht aus, um eine angemessene Wohnung zu finden.

Hinzu kommt, dass in dieser angespannten Lage manche Bevölkerungsgruppen wie Ältere und Migranten auf dem Wohnungsmarkt Diskriminierung erfahren und nicht berücksichtigt werden. Wohnungsnot ist in unterschiedlichen Graden stark verbreitet.

So detailliert und differenziert die Zahlen der FOL sind, ähnlich belastbares Zahlenmaterial gibt es als amtliche Erhebung nicht. Wie viele Menschen tatsächlich wohnungslos sind, das heißt, über keine oder keine angemessene Wohnung verfügen, ist unbekannt. Eine entsprechende Statistik gibt es weder auf Bundesebene noch auf Landesebene, abgesehen von Nordrhein-Westfalen. Dabei wären jährlich erhobene Zahlen zu Art, Dauer und Grund der Wohnungslosigkeit ein wichtiges Instrument für Prävention und im Kampf gegen den Wohnungsmangel.

Viele Fragen, keine Antworten

Es ist wichtig zu wissen, wie viele Menschen in hierzulande auf der Straße, in Notunterkünften, in baufälligen Gebäuden, in Pensionen und provisorischen Containern, zur Untermiete oder auf fremden Sofas schlafen. Wie viele von ihnen sind weiblich, wie viele männlich? Warum sind auch Kinder betroffen? Welche anderen Probleme haben die Betroffenen möglicherweise? Erst wenn es Antworten auf all diese Fragen gibt, können Projekte zielgruppengerecht ausgerichtet werden.

Zahlen zur Wohnungslosigkeit sollten in den Sozialberichten von Bund und Ländern aufgenommen werden, weil sie ein Seismograph für die soziale Inklusion unserer Gesellschaft sind und dokumentieren, wie die sprichwörtliche Schere zwischen Arm und Reich tatsächlich immer weiter auseinandergeht und immer mehr Bevölkerungsschichten von Bedürftigkeit betroffen sind. Keine eigenen vier Wände zu haben, ist ein Indiz für materielle Not. Die entsteht in vielen Städten durch zu hohe Mieten, die bereits Normalverdiener über Gebühr belasten und andere Bevölkerungsgruppen wie Alleinerziehende und Erwerbslose in Armut bringen.

Wille zur Selbstkritik fehlt

Es gehört politischer Mut dazu, eine amtliche Wohnungslosenstatistik einzuführen, weil sie auch staatliches Versagen dokumentiert. Dieser Wille zur Selbstkritik fehlt den Verantwortlichen bis dato leider.

Die staatliche Schutzpflicht gilt allerdings nicht erst ab dem Moment, in dem Wohnungslosigkeit konkret droht oder sogar schon eingetreten ist, auch wenn das gegenwärtig so praktiziert wird. Vielmehr ist es die ureigene Aufgabe des Staates, eine ausreichende Versorgung aller Bürger mit Wohnraum sicherzustellen, wie es in der Bayerischen Verfassung (BayVerf) in Art. 106 Abs. 1 festgeschrieben ist und wie es im Grundgesetz für die Bundesrepublik festgeschrieben sein sollte.

Die Mietpreisbremse dagegen war in ihrer geltenden Form von Anfang an untauglich als Instrument des Mieterschutzes und ist eher als Camouflage staatlichen Handlungsunwillens zu bewerten, denn sie enthält etliche Schlupflöcher. Beispielsweise bleiben gerade die Mieten für Neubauten und umfangreich modernisierte Gebäude von ihr unberührt. Vor allem aber: Mieter haben kaum Sanktionsmöglichkeiten, wenn die Vereinbarung seitens des Eigentümers nicht eingehalten wird.

Sozialen Wohnungsbau wiederbeleben

Ganz klar: Der Staat muss verstärkt als Bauherr und Anbieter bezahlbaren Wohnraums auftreten. Und der soziale Wohnungsbau muss dringend wiederbelebt werden und das in einem Ausmaß, dass er kurzfristig zu einer ausreichenden Größe wächst und nicht - wie aktuell - lediglich ein Feigenblatt ist.

Ein Rückkauf vormals kommunaler Wohnungsbestände ist ebenfalls zu befürworten. Für diesen Zweck sind vorrangig öffentliche Mittel heranzuziehen. In der Bayerischen Verfassung findet sich dazu folgender Passus: "Die Förderung des Baus billiger Volkswohnungen ist Aufgabe des Staates und der Kommunen" (Art. 106 Abs. 2). Es mutet nämlich seltsam an, wenn die öffentliche Hand erst Immobilienbestände auf eigene Rechnung veräußert und dann der Bürgerschaft zuruft: "Kauft eure Wohnungen zurück!" Genossenschaftsmodelle ohne staatliche oder kommunale Beteiligung sind deshalb nicht unproblematisch.

Enteignung nur Ultima Ratio

Als überdauerndes und abschreckendes Beispiel sei an dieser Stelle an die Privatisierung der GBW-Wohnungen erinnert, der als größter Fehler des Regierungshandelns der letzten Jahrzehnte in Bayern einzustufen ist.

Enteignung beziehungsweise Vergesellschaftung sollten Ultima Ratio bleiben und müssen an strenge Voraussetzungen inklusive Entschädigung gebunden sein. Trotzdem darf der soziale Rechtsstaat angesichts drohender elementarer Missstände für erhebliche Teile der Bevölkerung diese Mittel nicht vorschnell aus Rücksicht auf bloße Kapitalinteressen ausschließen.

So sind es viele Maßnahmen, die gegen die Wohnungsnot ergriffen werden müssen. Sie sind unterschiedlich, aber haben eines gemeinsam: Sie müssen rasch umgesetzt werden, auch im Sinne des sozialen Friedens.

Dr. Thomas Beyer ist Landesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt in Bayern


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