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Wohnungsnot

Experte: Städte haben den Wohnungsmarkt aus der Hand gegeben



Die Mieter in deutschen Großstädten zahlen nach Auffassung des Oldenburger Sozialwissenschaftlers Walter Siebel heute die Zeche für gravierende Fehler der Wohnungspolitik, die ihren Anfang in den 70er Jahren nahmen.

"Damals glaubte der Bund, die Wohnungsfrage sei gelöst, und zog sich aus der Förderung des Wohnungsbaus zurück", sagte Siebel dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Mietpreisbindung für staatlich subventionierte Wohnungen ist auf 25 Jahre begrenzt. In der Folge ist der Bestand sozial gebundener Wohnungen in den vergangenen 30 Jahren von rund fünf Millionen auf 1,2 Millionen Wohnungen geschrumpft.

Zum "Grundfehler des Bundes" kam laut Siebel hinzu, dass viele Kommunen ihre Wohnungsbaugesellschaften ganz oder teilweise an private Investoren verkauft haben. "Mit den Einnahmen wollten die Städte ihre Haushalte sanieren", sagte Siebel. "Damit haben sie jedoch auch ihre Einflussmöglichkeiten auf den Wohnungsmarkt verloren." Deswegen regle heute weitgehend der Markt die Mieten - mit entsprechend hohen Preisen.

Neidvoller Blick nach Wien

Die Bewohner deutscher Großstädte könnten neidvoll auf die Mieter in Wien schauen, erklärte Siebel. Denn die Hauptstadt Österreichs und die Genossenschaften besitzen 60 Prozent der Wohnungen, und sie verlangen als Kaltmiete weniger als sieben Euro pro Quadratmeter. In München liegt dagegen die durchschnittliche Kaltmiete bei 11,69 Euro.

Deutsche Städte versuchten inzwischen, der Wohnungsmisere zu begegnen, sagte Siebel dem epd. So bemühten sich die Städte München und Hamburg, eine Drittelung des Wohnungsmarkts zu erreichen: Bauvorhaben würden teilweise nur genehmigt, wenn sich die Bauträger verpflichteten, jeweils ein Drittel der neuen Wohnungen zu verkaufen, freihändig zu vermieten und zu einem von der Stadt festgelegten Preis zu vermieten.

Kommunen haben begrenzte Möglichkeiten

Kommunen, die immer noch Gesellschafter eigener Immobilienunternehmen seien, träten wieder verstärkt als Bauherren auf. Doch ihre Möglichkeiten seien begrenzt. "Denn sie können nicht das Bauvolumen leisten, das notwendig wäre", sagte der Oldenburger Stadtforscher.

Andere Kommunen wie etwa die Stadt Tübingen erinnerten sich wieder an ihr Recht, gegen Grundstücksspekulation vorzugehen. So erlaubt das Baugesetzbuch, Besitzer brachliegender Baugrundstücke zum Bauen zu zwingen. Tun sie das nicht, hat die Stadt das Recht, die Immobilienbesitzer zu enteignen und ihnen das Grundstück zum aktuellen Marktwert wegzunehmen. Auf ähnliche Weise können Städte Immobilienbesitzer zur Sanierung verfallender Gebäude zwingen.

Markus Jantzer


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