sozial-Recht

Europäischer Gerichtshof

Arbeitnehmer haben Anspruch auf komplette Arbeitszeiterfassung




Arbeitszeiterfassung bei einem Unternehmen in Hannover
epd-bild/Jens Schulze
Der Europäische Gerichtshof stärkt die Rechte von Beschäftigten: Die EU-Staaten müssen Arbeitgeber zur kompletten Arbeitszeiterfassung verpflichten. Die reine Aufzeichnung von Überstunden genüge nicht, erklärten die Richter.

Kliniken müssen künftig umfassender die Arbeitszeiten von Ärzten dokumentieren. Denn alle Arbeitgeber sind nach EU-Recht grundsätzlich verpflichtet, die gesamte Arbeitszeit zu erfassen und hierfür ein "objektives, verlässliches und zugängliches" Arbeitszeitsystem einzurichten, urteilte am 14. Mai der Europäische Gerichtshof (EuGH). Die Luxemburger Richter verwiesen darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten nun entsprechende Regelungen zur Arbeitszeiterfassung in nationales Recht umsetzen müssen.

Details sind noch unklar

Gesetzliche Bestimmungen wie in Deutschland, wonach Arbeitgeber in der Regel nur über die Überstunden buchführen müssen, reichen danach nicht aus. Wie künftig Arbeitgeber die Arbeitszeiten in besonders flexiblen Arbeitsbereichen wie im Home Office "objektiv, verlässlich und zugänglich" erfassen sollen, ist noch unklar.

Im konkreten Rechtsstreit hatte eine spanische Dienstleistungsgewerkschaft von der Deutschen Bank SAE in Spanien verlangt, dass nicht nur die Überstunden der Mitarbeiter, sondern auch deren reguläre Arbeitszeit erfasst und mitgeteilt wird. Auf diese Weise sollten Überstunden besser belegt und schließlich honoriert werden können.

In Deutschland gibt es im Arbeitszeitgesetz vergleichbare Regelungen wie in Spanien. Danach müssen Arbeitgeber "die über die werktägliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit aufzeichnen". Wie die Arbeitszeiterfassung aussehen soll, etwa per Stechuhr, per Smartphone-App oder einfach nur mit einer Zettelwirtschaft, ist nicht vorgeschrieben. Nur in bestimmten Arbeitsverhältnissen wird bereits jetzt schon die reguläre Arbeitszeit verpflichtend aufgezeichnet, etwa bei Minijobs oder bei Schichtarbeit.

Gesetz begrenzt maximale Arbeitszeit

Der EuGH verwies nun auf die EU-Grundrechte-Charta und die EU-Arbeitszeitrichtlinie. Ohne ein System zur täglichen Arbeitszeiterfassung könne "weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden". Es müsse aber gewährleistet werden, dass die gesetzliche Höchstarbeitszeit von täglich zehn und wöchentlich 48 Stunden sowie vorgeschriebene Ruhepausen eingehalten werden.

Nach dem schriftlichen Urteil kann es zudem Ausnahmen bei der Arbeitszeiterfassung geben, etwa "wenn die Dauer der Arbeitszeit aufgrund der besonderen Merkmale der betreffenden Tätigkeit nicht gemessen und/oder vorgegeben wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann".

Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung müssen die nationalen Gerichte prüfen, ob jeweils das bisherige Recht eine Auslegung erlaubt, die den Anforderungen des EU-Rechts gerecht wird.

"Gesetzgeber muss schnell handeln"

"Der Gesetzgeber soll die Arbeitszeiterfassung nun so schnell wie möglich regeln", sagte Inken Gallner, Vorsitzende des 10. Senats des Bundesarbeitsgerichts, zu dem Urteil. "Dazu müssen selbstverständlich die Verbände angehört werden. Die Arbeitgeber werden nicht glücklich über die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung sein. Auch die Arbeitnehmer werden sich zum Teil eingeengt fühlen, weil sie in ihren Arbeitszeiten von zu Hause aus oder von unterwegs aus kontrolliert werden."

Sylvia Bühler vom Verdi-Bundesvorstand sagte auf epd sozial-Anfrage: "Täglich wird in nahezu jeder Gesundheitseinrichtung ohne Zeiterfassungssystem sehr viel Arbeitszeit von den Beschäftigten unvergütet erbracht." Es sei daher gut, dass die realen Arbeitszeiten künftig erfasst werden müssten. Denn viele Beschäftigte im Gesundheitsdienst würden früher kommen und später gehen, "damit sie bei der viel zu dünnen Personaldecke ihre Arbeit bewältigen können".

Eine bundesweite Befragung der Gewerkschaft zum Thema Überstunden in Krankenhäusern im Jahr 2016 hatte ergeben, dass jede Pflegekraft 32,5 Überstunden vor sich her schiebt, insgesamt fielen 35,7 Millionen Überstunden an.

"Jede dritte Überstunde unbezahlt"

Die Ärztevertretung Marburger Bund kündigte an, bei den kommenden Tarifverhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern die Arbeitszeiterfassung zum Thema zu machen. "Überschreitungen der Höchstarbeitszeitgrenzen sind in deutschen Krankenhäusern an der Tagesordnung, ohne dass die Aufsichtsbehörden diesem Missstand im erforderlichen Umfang begegnen", sagte Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes.

Nach einer Umfrage von über 6.000 Mitgliedern der Standesvertretung würden in Kliniken in rund 30 Prozent der Fälle Überstunden nicht bezahlt. In Krankenhäusern werde immer wieder die Arbeitszeit händisch erfasst oder die Zeiten nachträglich gekappt, um eine Überschreitung der Höchstarbeitsgrenzen nicht offensichtlich zu machen. Erforderlich sei eine "manipulationsfreie, automatisierte Arbeitszeiterfassung", so Henke.

Instrument gegen "Flatrate-Arbeit"

Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) konnte zu den Auswirkungen des Urteils auf ambulante Pflegedienste noch nichts Genaues sagen. Das Problem unbezahlter Überstunden gebe es aber angesichts des Pflegenotstandes und des Personalmangels nicht. Sobald jemand seine Überstunden nicht honoriert bekomme, wechsele er sonst den Arbeitgeber. Greife bei der Bezahlung das Mindestlohngesetz, müssten sowieso die Arbeitszeiten dokumentiert werden.

Annelie Buntenbach vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes begrüßte das EuGH-Urteil. Mit der verpflichtenden Arbeitszeiterfassung werde der "Flatrate-Arbeit" einen Riegel vorgeschoben. Gerade da, wo Arbeitgeber keine Arbeitszeiterfassung für notwendig hielten, fielen gemachte Überstunden unter den Tisch und würden nicht honoriert. "Das kommt nicht nur einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich - innerhalb eines Jahres wirtschaften sich die Arbeitgeber so rund 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche", sagte Buntenbach.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände kritisierte, dass mit der verpflichtenden Arbeitszeiterfassung flexiblen Arbeitsverhältnissen Steine in den Weg gelegt werden. Den Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 werde man so nicht gerecht.

Az.: C-55/18

Frank Leth