sozial-Branche

Corona-Krise

Interview

Experte: Lage in der häuslichen Pflege wird sich zuspitzen




Viele Pflegebedürftige müssen daheim jetzt ohne Hilfe von osteuropäischen Frauen auskommen.
epd-bild/Jürgen Blume
Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege warnt infolge der Corona-Krise vor einem akuten Notstand in der häuslichen Pflege. Viele osteuropäische Betreuungskräfte verlassen Deutschland derzeit aus Angst, zugleich finden Familien nach einem geplanten Wechsel kein neues Personal. Das führe dazu, dass sich die Lage bedrohlich zuspitze.

Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte der Geschäftsführer des Verbandes, Frederic Seebohm, dass bis zu 200.000 alte Menschen schon bald nicht mehr durch osteuropäische Betreuungspersonen versorgt werden könnten. Oft müssten nun die Angehörigen selbst einspringen. Die Fragen stellte Patricia Averesch.

epd sozial: Herr Seebohm, ausländische Betreuungskräfte dürfen nach den Einreisebeschränkungen weiter nach Deutschland einreisen. Warum gehen Sie davon aus, dass trotzdem so viele Osteuropäerinnen fehlen werden?

Frederic Seebohm: Das ist ganz einfach. Nur legal beschäftigte Betreuungspersonen dürfen einreisen - das sind in Deutschland aber nur zehn Prozent. Die Mehrheit der Betreuungspersonen ist illegal tätig. Ich weiß zwar nicht, wie streng die Polizei an den Grenzen kontrolliert, aber nach geltendem Recht dürften diese Menschen nicht das Land betreten. Hinzu kommt, dass sich alle Einreisenden seit Karfreitag zunächst zwei Wochen lang in häusliche Quarantäne begeben müssen. Auch von dieser Regel sind nur legal beschäftigte Betreuungspersonen ausgenommen. Wir rechnen damit, dass nach Ostern schrittweise bis zu 200.000 Menschen fehlen werden.

epd: Das Einreiseverbot wurde bereits im März verhängt. Warum gehen Sie davon aus, dass sich die Not erst nach Ostern zeigen wird?

Seebohm: Wir gehen davon aus, dass die familiäre Solidarität das Fehlen der Betreuungspersonen vor und während Ostern aufgefangen hat. Angesichts von Homeoffice und Kurzarbeit kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sich viele Familien zunächst selbst um den pflegebedürftigen Angehörigen gekümmert haben, bevor sie in dieser Situation Geld für eine legal tätige Betreuungskraft ausgegeben haben. Das war für den Moment vielleicht sogar etwas familiär sehr Bereicherndes, aber es ist keine Dauerlösung. Wir wissen nicht, wie lange die Corona-Maßnahmen andauern werden und auch nicht, ob es nicht wieder zu einem Aufflammen der Infektionen kommen wird. Nach Ostern wird sich die Lage zuspitzen.

epd: Tagespflege-Einrichtungen für Senioren haben geschlossen, und Kurzzeitpflege-Einrichtungen nehmen oft keine neuen Bewohner auf. Welche Möglichkeiten haben die Familien, in denen die Betreuungskräfte fehlen?

Seebohm: Das ist eine ganz schwierige Situation. Die Dienstleistung der Betreuungspersonen ist wichtig für das körperliche aber auch für das seelische Wohlbefinden der Senioren. Wir reden von Menschen in existenziellen Nöten, die meist bis in den Tod von den Betreuungspersonen begleitet werden. Jetzt müssen die Angehörigen selbst einspringen oder rund tausend Euro mehr in die Hand nehmen und eine Betreuungsperson legal beschäftigen.

epd: Ihr Verband vertritt über Vermittlungsagenturen rund ein Drittel der legal in Deutschland tätigen Betreuungspersonen. Sind in der Krise denn überhaupt noch genug legal beschäftigte Frauen bereit, nach Deutschland zu kommen?

Seebohm: Ja, auch wenn in unseren Agenturen manche Betreuungspersonen ihre Arbeit abbrechen oder Reisen nicht antreten. Das ist nachvollziehbar. Sie haben Angst um ihre eigene Familie in der Heimat.

epd: Große Buslinien fahren aktuell nicht. Wie wird die Ein- und Ausreise der legal tätigen Betreuungspersonen aktuell organisiert?

Seebohm: Die Vermittlungsagenturen beauftragen zurzeit Kleinbusse. Allerdings müssen die Kleinbusfahrer zwei Wochen lang in häusliche Quarantäne, wenn sie zum Beispiel nach Polen zurückkehren. In Polen sind die Quarantänevorschriften härter als in Deutschland. Deshalb machen es die polnischen Fahrer so, dass sie mit den Bussen bis zur deutschen Grenze fahren und die Betreuungspersonen dort absetzen. Die Betreuungspersonen müssen dann zu Fuß über die Grenze, wo sie dann wieder von Bussen abgeholt werden.

epd: Was könnte die Betreuungskräfte dazu bewegen, nach Deutschland zu kommen oder hier zu bleiben?

Seebohm: Es braucht finanzielle Anreize. In Österreich zahlt der Staat aktuell eine "Bleib da"-Prämie in Höhe von 500 Euro, damit Betreuungspersonen vier Wochen länger bleiben und gar nicht erst abreisen. Eine solche Zahlung in Österreich ist nur möglich, weil dort die häusliche Betreuung schon seit 2007 auf eine rechtliche Grundlage gestellt wurde und nicht 90 Prozent der Betreuungskräfte wie in Deutschland illegal arbeiten.