sozial-Thema

Obdachlosigkeit

Housing First: Wohnen ist ein Menschenrecht




Corinna Müncho leitet "Housing First Berlin".
epd-bild/Christian Ditsch
Housing First, ein andernorts bewährter Ansatz in der Obdachlosenhilfe, kommt in Deutschland nicht voran - obwohl es bereits etliche Initiativen gibt, die Erfolge vorweisen können. Gründe dafür könnten Beharrungskräfte und Ängste sein.

In Deutschland ist der in anderen Ländern erfolgreiche Ansatz des "Housing First" (Zuerst eine Wohnung) in der Obdachlosenhilfe bisher über Modellprojekte nicht hinausgekommen. Dabei gibt es hierzulande über 20 Initiativen, die Obdachlosen ohne die sonst üblichen Vorbedingungen mit Erfolg zu einer Mietwohnung auf Dauer verhelfen. Eine davon arbeitet in Berlin - derzeit jedoch unter erschwerten Bedingungen.

In Zeiten von Corona gehen die Uhren anders. Auch in der Betreuung von obdachlosen Menschen. "Natürlich sind auch wir von der Corona-Situation betroffen. Was aber nicht zur Folge hat, dass unsere Aktivitäten auf Eis liegen", betont die Projektleiterin von Housing First Berlin, Corinna Müncho, gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wir arbeiten in einem geteilten Team und tauschen uns über Telefon und Videochats aus."

Auch bei der Aufnahme wohnungsloser Menschen ins Projekt versuche man, nicht ins Stocken zu kommen. "Wir haben auch in den letzten Wochen Aufnahmegespräche geführt und Wohnungen vermittelt." Aktuell befänden sich drei Menschen in der Einzugsphase und ein Mann steht kurz vor der Mietvertragsunterzeichnung, sagt Müncho.

Abkehr von langjährigen Stufenplänen

Housing First überwindet alle üblichen Systeme von "Stufenplänen", in denen Wohnungslose aus der Notunterkunft über Aufnahmehäuser, Übergangswohnungen, Wohnheime, Trainingswohnungen, betreute Wohngemeinschaften Schritt für Schritt herangeführt werden an das "normale" Wohnen - Housing first verfolgt einen völlig anderen Ansatz als die klassische Wohnungslosenhilfe.

Bisher wurden im Zuge von Housing First Berlin, einer Partnerschaft der Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH, rund 30 Personen aufgenommen und in eigene Wohnungen vermittelt, wo sie weitere professionelle Hilfen bekommen können. Darüber entscheiden die Teilnehmer selbst. "Insgesamt kann als Zwischenbilanz festgestellt werden, dass das Projekt alle seine Ziele für das erste Projektjahr erreicht hat und damit sehr erfolgreich gearbeitet hat", heißt es in einer ersten Evaluation.

Noch ist es nur ein dreijähriges Projekt. Es wird unterstützt vom Senat - und die Laufzeit der Initiative ist zur Hälfte rum. Getestet wird, über eigene, gezielte Akquise bei den öffentlichen, privaten oder genossenschaftlichen Wohnungsbauunternehmen Quartiere für Menschen zu finden, die auf der Straße leben. "Unser Konzept ist ein erster Aufschlag", sagt Müncho. Der Ansatz müsse stets weiterentwickelt werden. So fände Müncho es "hilfreich, auch Psychologen und Therapeuten dabeizuhaben".

Pandemie-Folgen noch offen

Die Pandemie behindert die Abläufe in der Hauptstadt erheblich. "Ob das nun zur Folge hat, dass die Modellprojektzeit verlängert werden muss oder eine Implementierung in das Regelhilfesystem nach Ablauf der geplanten Modellprojektzeit dennoch gelingt, kann ich gegenwärtig nicht einschätzen", bekennt die Leiterin. Das müsse man noch mit dem Senat besprechen.

Der Bedarf an bezahlbaren, meist kleinen Wohnungen ist riesig. Zwar weiß niemand, wie viele Personen obdachlos sind, denn eine bundesweite Statistik gibt es nicht. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe leben aktuell rund 41.000 Menschen ohne jede Unterkunft auf der Straße. Doch das ist nur eine Untergruppe der Hilfebedürftigen: Dazu kommen noch alle wohnungslosen Menschen, die beispielsweise in einer Notunterkunft oder bei Freunden wohnen. Die BAGW schätzte deren Zahl 2018 auf rund 678.000 Personen.

Zahlreiche Evaluationen belegen inzwischen eine positive Wirkung des Housing-First-Ansatzes. So zeigte eine von der EU-Kommission finanzierten Studie 2013 die Erfolge von Projekten aus Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon. In bis zu 90 Prozent der Fälle gelang ein dauerhafter Erhalt des Mietverhältnisses - Beweis dafür, dass ehemals Obdachlose auch nach Jahren auf der Straße in der Lage sind, auf eigenen Beinen zu stehen. Zusätzlich registrierten die Träger bei ihren Klienten positive Entwicklungen bei psychischen Erkrankungen und einen Rückgang beim Drogenmissbrauch. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der 2016 erschienene Housing First Guide Europe. Auch er zeigt eine hohe Quote dauerhaft beendeter Wohnungslosigkeit. In Österreich betrug die Quote des Wohnungserhaltes 98,3 Prozent.

Gefahr des "Drehtür-Effektes"

Der Armutsforscher Volker Busch-Geertsema vergleicht das bestehende deutsche System der Obdachlosenhilfe mit einer Leiter, die man Stufe für Stufe erklimmen müsse. Die Gefahr, abzurutschen und wieder ganz unten zu landen, sei sehr hoch, sagt er.

Busch-Geertsema verweist auf Finnland, das Paradebeispiel für die Erfolge von Housing First. Dort sei man überzeugt, dass die Idee vom langwierigen Durchlauf von Stufensystemen der falsche Weg sei. Wohnungslose mit Problemen müssten sich in diesen Systemen den Zugang zum Normalwohnraum verdienen durch Mitwirkungsbereitschaft, durch Abstinenz, durch Teilnahme an Therapien.

In Nordrhein-Westfalen läuft ein Projekt zur Implementierung des Housing-First-Ansatzes. Es läuft Ende des Jahres aus. "50 Wohnungen konnten unsere Träger kaufen und bereits fest an ehemalige Obdachlose vermieten. Und bis Jahresende kommen sicher noch einige hinzu", berichtet die Fachreferentin Wohnungslosenhilfe des Landesverbandes NRW des Paritätischen, Sylvia Rietenberg. 22 Partner, darunter auch kirchliche Träger, habe man seit Projektstart 2017 gewonnen, die fast alle auch kleine, möglichst dezentral gelegene Appartements gekauft und vermietet hätten, von Dortmund über Siegen, Minden und Münster bis nach Bonn.

Der Erfolg spreche für sich, betont Rietenberg. "Wir haben eine sehr hohe Haltequote" - soll heißen, die neuen Mieter bleiben, nehmen die ergänzenden Hilfen an und suchen so einen neuen Weg ins Leben.

Gelder aus Fonds helfen beim Kauf

Möglich werden die Käufe mit Unterstützung des Housing-First-Fonds, eine Kooperation des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW und dem Düsseldorfer Verein der Wohnungslosenhilfe fiftyfifty/Asphalt. Mit den Mitteln des Fonds werden Finanzierungsgrundlagen zum Ankauf von Wohnungen geschaffen. Kooperationspartner bekommen 20 Prozent des Ankaufspreises einer Immobilie aus dem Fonds gestellt. Die Projektdurchführung wird durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW bis Ende November 2020 gefördert. Der Fonds selbst finanziert sich aus anderen Mitteln: Über den Verkauf von gespendeten Kunstwerken namhafter Künstler.

Rietenberg hofft auf eine landesweite Ausweitung des Konzeptes als dauerhafte Ergänzung in der bestehenden Obdachlosenhilfe. "Unsere Intention ist es, zu zeigen, dass die Idee funktioniert und zu ermitteln, was an Unterstützung und Beratung vor Ort gebraucht wird." Würde das Programm zu einem landesfinanzierten Regelangebot, dann "hätten wir ganz andere Möglichkeiten mit viel mehr Wucht".

Aber, sie stellt auch klar: Housing First dürfe man nicht in Konkurrenz zu den klassischen Angeboten der Obdachlosenhilfe sehen. Man brauche für unterschiedliche Zielgruppen unterschiedliche Angebote im Hilfesystem. Rietenberg verweist auf jene Klientel, die oft über Jahre fachlich betreut und beraten werde, mehrere Systeme durchlaufen und dann doch wegen des sogenannten Drehtüreffektes irgendwann wieder auf der Straße lande.

In der Berliner Konzeption heißt es dazu: "Zielgruppe des Projekts sind allein stehende wohnungslose Menschen mit multiplen Problemlagen. Diese sollten sich in Lebenssituationen befinden, "in der die Person von bestehenden Angeboten der Regelversorgung nicht erreicht wird beziehungsweise bereits Angeboten erfolglos durchlaufen hat."

Bedenken in Fachkreisen

Es gibt laut Rietenberg jedoch auch in Fachkreisen durchaus Bedenken gegen das neue Konzept, auch weil Housing First bedeute, "die gesamte althergebrachte Herangehensweise etwa mit betreuten Wohnungen infrage zu stellen". Dazu kämen eigene wirtschaftliche Interessen und Ängste der oft schon jahrzehntelang tätigen Träger, ihre bestehenden Wohnstrukturen nicht mehr auslasten zu können.

Das bestätigt auch Corinna Müncho. Man komme sich bei den unterschiedlichen Klienten und deren verschiedenen Zugängen ins Hilfesystem zwar nicht direkt in die Quere. Aber "Reibungen wird es immer geben". Manche Kolleginnen und Kollegen sähen in Housing First durchaus eine Konkurrenz. Die würde sicher anschwellen, wenn die reguläre Finanzierung der Obdachlosenhilfe über das Sozialgesetzbuch XII auch auf Housing First ausgeweitet würde.

Für Volker Busch-Geertsema folgt Housing First "ein bisschen dem Prinzip Learning by Doing, ebenso, wie man Schwimmen halt am besten im Wasser lernt und nicht auf dem Trockenen. Und wenn man Fahrradfahren lernen will, dann ist es nicht schlecht, wenn man ein eigenes Rad hat."

Dirk Baas