sozial-Branche

Corona

Interview

Verband: Werkstätten beklagen massive Auftragsverluste




Martin Berg
epd-bild/Ulrich Schepp
Die meisten Werkstätten für behinderte Menschen sind glimpflich durch die Corona-Krise gekommen. Doch die mittelfristigen Folgen für die Einrichtungen sind noch nicht absehbar, sagt Verbandsvorsitzender Martin Berg. Die Krise habe einigen Reformbedarf offengelegt.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) fordert als Konsequenz aus dem Corona-Lockdown, die Beschäftigten künftig in Krisenzeiten finanziell besser abzusichern. In der Pandemie seien "Regelungslücken und rechtliche Unklarheiten offenbar geworden, die eine soziale Sicherung der Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten zusätzlich erschweren", sagte Verbandschef Martin Berg im Interview. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die Corona-Krise dauert an, auch wenn der Lockdown voranschreitet. Wie ist die aktuelle Lage in den Werkstätten und welche Probleme sind noch zu bewältigen?

Martin Berg: Die Werkstätten sind unterschiedlich von der Coronavirus-Krise betroffen. Wegen genereller Betretungsverbote konnte die Werkstattleistungen nur vereinzelt oder teilweise erbracht werden. Die behördlichen Anordnungen lassen nun seit Mitte Mai in fast allen Bundesländern wieder Teilöffnungen zu. Stand heute ist es in allen Ländern unter gewissen Maßgaben möglich, dass Beschäftigte wieder tätig sind. Wir befinden uns bereits mitten in der Wiederöffnungsphase. Wobei man sagen muss, dass derzeit nicht alle Beschäftigten durch die Hygiene- und Infektionsschutzauflagen in die Werkstatt zurückkommen können beziehungsweise dürfen.

epd: Viele sagen, Corona habe auch zu vielen schmerzlichen Erkenntnissen geführt. Was ist aus der Sicht der Werkstätten anzumerken?

Berg: Die Krise führt deutlich vor Augen, dass Werkstätten sowohl vielfältige Unterstützungs- und Teilhabeleistungen erbringen als auch "Arbeitgeber" sind, die mit ihren Produkten und Dienstleistungen am Markt bestehen müssen. Beides sind integrale Bestandteile der Werkstattleistung, die auch und gerade in Krisenzeiten verlässlich gesichert werden müssen.

epd: Waren die Betretungs- und Kontaktverbote in den Einrichtungen wirklich ohne Alternative?

Berg: In den ersten Wochen waren die generellen Betretungsverbote richtig. Das Risiko war für alle Beteiligten schwer einzuschätzen, und auf den ersten Blick gehört ein Großteil der Beschäftigten zum vulnerablen Personenkreis. Daraus folgt das erhöhte Infektions- und Erkrankungsrisiko, mit dem die Entscheidungen begründet waren.

epd: Also volles Verständnis?

Berg: Nein. Man hätte schon früher Alternativen diskutieren müssen. Denn die Betretungsverbote wurden für alle Beschäftigten ausgesprochen und blieben über mehr als zwei Monate bestehen - ohne weitere Auseinandersetzung mit dem Personenkreis und den konkreten Gefährdungspotenzialen, einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass Werkstattbeschäftigte eine Behinderung haben. Auch die unterschiedliche Vorgehensweise in den einzelnen Ländern war nicht immer hilfreich.

epd: Kann man den wirtschaftlichen Schaden von Corona schon bemessen?

Berg: Seriöse Zahlen über die durch die Coronavirus-Krise entstandenen Schäden gibt es noch nicht. Wir stellen jedoch mit Sorge fest, dass in einigen Werkstätten Aufträge zurückgehen. Eine erste Umfrage von Ende April unter unseren Mitgliedern zeigt: Über 80 Prozent der Werkstätten beklagen einen Rückgang der Aufträge um im Schnitt 60 Prozent.

epd: Werkstätten bilden ja gemeinhin keine großen finanziellen Rücklagen. Hat es Konkurse gegeben, weil die Vergütungen nicht oder nicht in voller Höhe geflossen sind?

Berg: Nein. Das wurde dank der Träger der Eingliederungshilfe, der Agentur für Arbeit, der Rentenverssicherung und vielen anderen verhindert. Sie haben die Zahlungen auch während der Krise weiter geleistet und dafür gesorgt, dass bei den Trägern keine finanziellen Schieflagen entstand. Für den Lohn der Mitarbeiter haben Werkstätten Rücklagen für Ertragsschwankungen gebildet. Diese wurden oftmals eingesetzt, um in der Krise die Werkstattentgelte weiterzuzahlen. Sorge machen uns die mittelfristigen wirtschaftlichen Folgen und damit die "echten" Ertragsschwankungen. Diese können kaum mit den größtenteils aufgezehrten Rücklagen aufgefangen werden.

epd: Die Politik nimmt viel Geld in die Hand, um die Wirtschaft zu stützen oder um Kurzarbeit zu finanzieren. Spielen die Werkstätten und ihre speziellen Probleme nur eine untergeordnete Rolle?

Berg: Das ist zum Teil richtig. Werkstätten brauchen finanzielle Sicherheit. Die Leistungsbeziehungen dürfen auch in Krisenzeiten nicht beendet werden. Vereinbarte Vergütungen müssen in voller Höhe fließen, denn Werkstätten erbringen vielfältige Leistungen für die Menschen mit Behinderungen, was auch geschehen ist. Mit dem neuen Konjunkturpaket sollen nun aber auch endlich gemeinnützige Organisationen und damit auch ausdrücklich Werkstätten unterstützt werden. Die kürzlich vom Bundeskabinett beschlossene Sicherung der Werkstattentgelte zeigt, dass die Politik erkannt hat, dass sich die finanzielle Situation vieler Menschen mit Behinderungen in Werkstätten durch die Krise verschlechtert hat.

epd: Die Pandemie hat gezeigt: Für Werkstattbeschäftigte gibt es keine Lohnersatz- oder Entschädigungsleistungen. Warum sind diese Zahlungen so wichtig?

Berg: Weil Werkstattbeschäftigte in besonderer Weise betroffen sind. Es wurden Regelungslücken und rechtliche Unklarheiten offenbar, die eine soziale Sicherung der Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten zusätzlich erschweren. Sie dürfen hinsichtlich der Werkstattentgelte nicht durchs Raster fallen. Auch für sie müssen Lohnersatz- oder Entschädigungsleistungen geschaffen werden. Den zuständigen Behörden muss klar sein, dass für Betroffene das Verbot ihrer beruflichen Tätigkeit empfindliche Einkommenseinbußen bedeuten. Gerade viele Empfänger von Erwerbsminderungsrenten, für die das Werkstattentgelt anrechnungsfrei ist, sind auf diesen Einkommensbestandteil angewiesen.

epd: Das hat die Politik ja jetzt erkannt.

Berg: Ja. Wir begrüßen es, dass das Bundeskabinett am 17. Juni eine Änderung der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV) beschlossen hat. In der Verordnung ist eine Regelung zur Sicherung der Werkstattentgelte enthalten. Mit der Änderung der Verordnung verzichtet der Bund auf die Hälfte seiner Einnahmen des Jahres 2020 aus der Ausgleichsabgabe.

epd: Wie sieht diese Unterstützung aus?

Berg: Das Geld, etwa 70 Millionen Euro, verbleibt in den Ländern und wird dort an die zuständigen Integrationsämter weitergeleitet. Diese sollen es an Werkstätten und andere Leistungsanbieter verteilen, die nicht (mehr) in der Lage sind, die Entgelte der Beschäftigten zu zahlen. Wir sind in der jüngeren Vergangenheit vermehrt an die Politik herangetreten und haben den dringenden Handlungsbedarf beim Thema Werkstattentgelte verdeutlicht. Die aktuellen Entwicklungen begrüßen wir daher ausdrücklich.

epd: Werkstattbeschäftigte sind keine Arbeitnehmer mit deren Rechten. Welche Reformen sollte die Politik in der Absicherung von Menschen mit Behinderung für künftige Krisen angehen, Stichwort soziale Absicherung?

Berg: Das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis sollte nicht an den Punkten ausgehöhlt werden, an denen Politik Geld in die Hand nehmen muss. Jetzt in der Krise ist deutlich geworden, dass für einige Personenkreise die bereits bestehenden Ansprüche für Einkommenseinbußen erweitert werden müssen - Werkstattbeschäftigte hingegen wurden auf die Grundsicherung verwiesen.

epd: Warum ist das problematisch?

Berg: Der Verweis auf die Grundsicherung stellt für viele Menschen mit Behinderungen eine nicht hinzunehmende Geringschätzung ihrer Anstrengungen dar, die sich über die Teilhabe am Arbeitsleben ein Stück Selbstbestimmung und Selbstwertgefühl erkämpft haben. An dieser Stelle hoffen wir noch auf eine zufriedenstellende Lösung.

epd: Überall wird die Forderung laut, die Digitalisierung voranzutreiben, um auch dezentral arbeitsfähig zu sein. Sehen Sie diese Notwendigkeit auch für die Werkstätten?

Berg: Menschen mit Behinderungen dürfen bei Fragen nach einer digitalisierten Arbeitswelt, die durch die Coronavirus-Krise stark in den Fokus rücken, nicht vergessen werden. Dafür muss in Zukunft ein Schwerpunkt nicht nur auf die Befähigung der Menschen mit Behinderungen gelegt werden. Zugleich braucht es auch geeignete technische Ausstattungen, damit die neuen Methoden und Instrumente auf Akzeptanz stoßen und auch genutzt werden können.