sozial-Branche

Medizinforschung

Belege für Contergan-Experimente an Kindern aufgetaucht




Verheerendes Medikament: Contergan Tabletten
epd-bild/Joke /Jörg Loeffke
Contergan hat wegen dramatischer Nebenwirkungen den größten Arzneimittelskandal der bundesdeutschen Geschichte ausgelöst. Neue Recherchen haben nun ergeben, dass das Beruhigungsmittel unter anderem in Rheinland-Pfalz an Kindern getestet wurde - auch in Caritas-Einrichtungen.

Das für schwere Fehlbildungen bei rund 10.000 Babys verantwortliche Schlafmittel Contergan ist offenbar noch 1960 an Kindern gestestet worden. Das ARD-Politikmagazin "Report Mainz" berichtete am 18. August nach Recherchen über mehrere Studien. Man habe Hinweise darauf gefunden, dass Kindern im Alter zwischen zwei und 14 Jahren teilweise gezielt Überdosen des Medikaments verabreicht wurden.

Die Experimente fanden demnach unter anderem in der Caritas-Lungenheilanstalt "Maria Grünewald" im rheinland-pfälzischen Wittlich an tuberkulosekranken Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet statt. Zum Zeitpunkt der Medikamententests habe es bereits zahlreiche Hinweise auf schwere Nebenwirkungen von Contergan gegeben.

Kinderarzt aus Stuttgart ebenfalls involviert

Auch ein Kinderarzt aus Stuttgart soll das Beruhungsmittel zu Testzwecken Säuglingen verabreicht haben. Trotz intensiver Recherche fand die "Report Mainz"-Redaktion keine Unterlagen darüber, welche Kinder an den Tests teilgenommen haben. Hinweise darauf, dass das Einverständnis von Eltern eingeholt wurde, habe es ebenfalls nicht gegeben. Die Abschlussstudie zu den Untersuchungen in Wittlich vermerkte lediglich leichte Nebenwirkungen. Mögliche Langzeitfolgen bei den Kindern wurden offenbar nicht dokumentiert.

Der katholische Trierer Weihbischof und Vorsitzende des Caritasverbandes für die Diözese Trier, Franz Josef Gebert, sagte dem Magazin, man habe nichts von den Versuchen gewusst und sei erschüttert. Er versprach, die Geschehnisse aufzuklären und bat um Entschuldigung für "Fehler, die unter dem Namen der Caritas passiert sind." Auch der Contergan-Hersteller Grünenthal äußerte sein Bedauern. Aus heutiger Sicht seien Medikamentenstudien an Kindern nicht mehr nachzuvollziehen, hieß es.

Caritas verspricht Aufklärung

Der Caritas-Verband der Diözese Trier teilte dem epd auf Nachfrage mit, es sei unklar, ob und welche Vereinbarungen den Tests zugrunde gelegen haben. Gemeinsam mit der St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe GmbH, dem jetzigen Träger der Einrichtung in Wittlich, und dem damals für die Betreuung der Kinder verantwortlichen Orden der Armen Dienstmägde Jesu Christi, werde versucht, die Vorgänge zu recherchieren. Die einstige Heilanstalt für lungenkranke Kinder in Wittlich sei bereits 1972 in eine Einrichtung der Behindertenhilfe umgewandelt worden.

Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan war von 1957 bis 1961 auf dem Markt. Bei der Zulassung des Medikaments war nicht bekannt, dass der Wirkstoff Thalidomid fatale Folgen für die Entwicklung von Embryos hat. Schwangere, die das rezeptfrei erhältliche Mittel auch gegen Übelkeit einnahmen, brachten Kinder mit schweren Missbildungen an Armen und Beinen zur Welt. Die Contergan-Affäre gilt als folgenschwerster Arzneimittelskanal in der Geschichte der Bundesrepublik.

Karsten Packeiser