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Gesundheit

Interview

Verband: Bei Kliniken keine vorschnellen Lehren aus Corona ziehen




DEKV-Vorsitzender Radbruch fordert eine umfassende Klinikreform
epd-bild/Viktoria Kühne
Christoph Radbruch warnt davor, bereits jetzt Schlüsse für eine zukünftige Krankenhausstruktur aus den Erfahrungen in der Corona-Krise zu ziehen. Dazu "benötigen wir belastbare Daten und nicht nur subjektive Einschätzungen", sagte der Vorsitzende des evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV) im Interview.

Der Staat stellt in der Corona-Krise mit seinen finanziellen Hilfen für die Krankenhäuser sicher, "dass unser Gesundheitswesen funktioniert und arbeitsfähig ist". Nach Auffassung des Vorsitzenden des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV), Christoph Radbruch, kehren die Kliniken nun "aus einem Krisenmodus in den Alltagsbetrieb unter Pandemiebedingungen zurück", wie er dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Radbruch, unter Experten ist es umstritten, ob es in Deutschland schon eine zweite Corona-Welle gibt oder sie zumindest droht. Was sagen Sie?

Christoph Radbruch: Da selbst die Experten keine Vorhersage wagen, ob es eine zweite Welle gibt oder nicht, bin ich als Nicht-Virologe eher zurückhaltend. Aus meiner Sicht ist das wahrscheinlichste Szenario, dass wir noch längere Zeit mit einer höheren Anzahl von Neuinfektionen leben müssen. Ob es eine zweite Welle geben wird, hängt davon ab, ob die Menschen weiterhin diszipliniert Abstand halten, Hygienemaßnahmen einhalten und eine Alltagsmaske tragen. Künftig wird die Möglichkeit, an COVID-19 zu erkranken, zu den Lebensrisiken gehören.

epd: Das hört sicher keine gerne ...

Radbruch: Die bisherigen Erfahrungen haben aber gezeigt, dass die Krankenhäuser und das gesamte Gesundheitssystem in der Lage sind, diese Kranken zu versorgen.

epd: Wie sind die Kliniken bisher wirtschaftlich durch die Krise gekommen?

Radbruch: Das Zusammenwirken der Einzelregelungen des COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetzes ist komplex. Aber die Pauschale für freigehaltene Betten sowie die Verkürzung des Zahlungsziels der Krankenkassen auf fünf Tage hat die Liquidität vieler Krankenhäuser erst einmal kurzfristig gesichert.

epd: Was heißt das genau?

Radbruch: Durch die Pauschale von 50.000 Euro pro Intensiv-Beatmungsplatz wurde es möglich, zusätzliche Kapazitäten aufzubauen. Für die meisten Krankenhäuser wurde der Erlösausfall wegen leerstehender Betten durch die Pauschale von 560 Euro ausgeglichen. Kliniken mit einem hohen Case-Mix-Index (CMI), der die Fallschwere der behandelten Patienten abbildet, werden ihre Ausfälle durch die Pauschale jedoch nicht ausgleichen können. Das betrifft nicht nur die großen Maximalversorger, sondern auch Fachkliniken und kleinere Häuser mit einem hohen Spezialisierungsgrad.

epd: Hat der Staat die Kliniken gerettet, indem er Pauschalen für freigehaltene Betten bezahlt?

Radbruch: Nein. Der Staat hat die Kliniken nicht gerettet, sondern sichergestellt, dass unser Gesundheitswesen funktioniert und arbeitsfähig ist. Dabei musste schnell gehandelt werden, um die Liquidität der Krankenhäuser sicherzustellen. Der im Krankenhausentlastungsgesetz gewählte Ansatz der einheitlichen Pauschale für jedes freigehaltene Bett führt unweigerlich zu Verwerfungen. Daher hat der Deutsche Evangelische Krankenhausverband schon im Mai gefordert, dass die Differenzierung der 560-Euro-Leerstandspauschale anhand des Case-Mix-Index erfolgen sollte.

epd: Welche Wirkung hätte das?

Radbruch: Das ermöglicht unabhängig von der Bettenzahl bei einem höheren Aufwand in der Versorgung eine sachgerechte Refinanzierung über die Leerstandspauschale. Wäre darüber hinaus eine Bereinigung um den variablen Sachkostenanteil erfolgt, hätten Fehlanreize durch die Pauschale zum größten Teil ausgeschlossen werden können.

epd: Noch immer werden Intensivbetten für Covid-19-Fälle freigehalten. Ist das wirklich nötig?

Radbruch: Das ist eine Frage der Risikoabschätzung und der gesamtgesellschaftlichen Fürsorge. Letztendlich wird man die Frage aber erst in der Rückschau beantworten können. Wichtig ist, dass die Kapazitäten in den einzelnen Regionen je nach der örtlichen Entwicklung der Pandemie von den Ländern und den zuständigen regionalen Behörden bevölkerungsbezogen geplant werden.

epd: Viele Operationen und Therapien fanden nicht statt. Kehren die Kliniken jetzt wieder zurück in den Normalbetrieb?

Radbruch: Ich würde es so formulieren, die Kliniken kehren aus einem Krisenmodus in den Alltagsbetrieb unter Pandemiebedingungen zurück. Für die Krankenhäuser besteht nun die organisatorische Herausforderung unter anderem darin, die Abstandsregeln einzuhalten. Dadurch verringert sich die Zahl der verfügbaren Betten, weil Dreibett- in Zweibettzimmer umgestaltet werden müssen. Das bedeutet auch: Die Behandlungskapazitäten in den Häusern sinken.

epd: Inzwischen tobt ein Streit über die Pflegepersonaluntergrenzen, die ja ausgesetzt waren ...

Radbruch: Es ist Konsens, dass es eine Mindestanzahl an Pflegepersonal geben muss, um die Patientensicherheit zu gewährleisten. Kritik an den aktuellen Regeln zu den Untergrenzen richtet sich gegen die starre, bürokratische Ausgestaltung und die pflegefachlich nicht begründete Berechnung einer statistischen Durchschnittsgröße.

epd: Welche Position hat der DEKV dazu?

Radbruch: Wir fordern, dass jede Pflegebemessungsregelung einen Mix an Qualifikationen ermöglicht, wie er in den Krankenhäusern bereits täglich gelebt wird. Das bedeutet vor allem eine arbeitsteilige Gestaltung, die darauf abzielt, die examinierten Pflegefachkräfte zu entlasten und zu unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden neben Pflegehilfskräften in den Krankenhäusern weitere Gesundheitsfachkräfte mit unterschiedlichen Qualifikationen eingesetzt, etwa Medizinische Fachangestellte oder Anästhesietechnische Assistenzen. Dieser Mix an Qualifikationen trägt maßgeblich dazu bei, alle Patientengruppen bedarfsgerecht zu versorgen und die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten.

epd: Corona hat die Debatte über die deutsche Kliniklandschaft neu befeuert. Stichwort Schließungen. Wäre die Krise mit der Hälfte an Krankenhäusern überhaupt zu überstehen gewesen?

Radbruch: Ich warne davor, bereits jetzt Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen und vor allem Schlussfolgerungen für eine zukünftige Krankenhausstruktur abzuleiten. Damit das möglich wird, benötigen wir belastbare Daten und nicht nur subjektive Einschätzungen. Nur so können wir gemeinsam auch Lehren der Corona-Krise für die zukünftige Krankenhausstruktur diskutieren.

epd: Manche Experten fordern dennoch bereits mehr Zentralisierung und die Schließung kleiner Häuser. Mit wohnortnaher Versorgung, die den Bürgern Umfragen zufolge am Herzen liegt, hätte das nichts mehr zu tun. Wie sehen Sie das?

Radbruch: Qualifizierte Patientenversorgung in Krankenhäusern ist nicht automatisch an die Größe geknüpft. Wir haben auch viele evangelische Krankenhäuser mit einer hohen Spezialisierung und exzellenter Behandlungsqualität. Eine singuläre Betrachtung der Anzahl der Betten pro Haus ist für mich kein aussagekräftiger Parameter, um qualifizierte Versorgung beurteilen zu können.

epd: In fast allen Sozialbereichen werden nun Fortschritte bei der Digitalisierung gefordert. Sind die Kliniken da auch gefordert und welche Bereiche müssen da vor allem aufholen?

Radbruch: Im Bereich der Digitalisierung gibt es viele Zukunftsaufgaben für die Krankenhäuser. Zum einen wird es notwendig sein, die Möglichkeiten der Digitalisierung noch mehr als bisher für die effektive Steuerung von internen Prozessen einzusetzen. Es wird auch darauf ankommen, dass die vielen Insellösungen der unterschiedlichen Akteure zusammengeführt werden. Es gibt spannende Entwicklungen wie künstliche Intelligenz, aber auch Techniken, die für Computerspiele entwickelt wurden, könnten künftig in der medizinischen Behandlung einsetzt werden. Das Wichtigste sind aber die Möglichkeiten der Digitalisierung zur Verbesserung der Patientenversorgung und dass diese konkret für die Patientinnen und Patienten erlebbar sind.

epd: Ist denn das Personal dazu schon in der Lage?

Radbruch: Wir müssen damit fortfahren, die digitalen Kompetenzen für pflegerische, therapeutische und medizinische Berufsgruppen konsequent zu entwickeln. Diese Querschnittskompetenz wird künftig in allen Bereichen eines Krankenhauses unverzichtbar sein.



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