sozial-Branche

Behinderung

Interview

Caritas: Zu wenig Hilfe für Flüchtlinge mit Behinderung




Barbara Weiser
epd-bild/Caritas/Nadin Kohlbrecher
Sie kommen mit Schusswunden, schweren Traumata und unbehandelten Krankheiten: Für Asylsuchende mit Behinderungen ist die Flucht eine besonders belastende Herausforderung - und in Deutschland sind sie nach Einschätzung der Caritas unterversorgt.

Der Deutsche Caritasverband wollte im Sommer 2019 von den 102 Beratungsstellen und Einrichtungen mit den Schwerpunkten Flucht, Migration und Behinderung des Verbandes wissen, wie sie die Lage von geflüchteten Menschen mit Behinderung in Deutschland einschätzen. Im Ergebnis bescheinigt der katholische Wohlfahrtsverband dem Sozialstaat in Deutschland mangelnde Versorgungsstrukturen für diese Flüchtlingsgruppe. Wie sich das ändern lässt, erklärt Barbara Weiser, Juristin beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück, im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit ihr sprach Jana-Sophie Brüntjen.

epd sozial: Frau Weiser, Sie kritisieren die schlechte Versorgungslage von Flüchtlingen mit Behinderung. Wie zeigt sich das in der Praxis?

Barbara Weiser: Es fehlt ganz häufig ein Bewusstsein für die Problematik und demnach auch an speziell geschulten Personen. Das fängt schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen an. Dort müsste schnell erkannt werden, wer einen besonderen Bedarf hat. Bei offensichtlichen Behinderungen ist das möglich, bei kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen schwierig. Dazu kommt die Sprachbarriere. Außerdem müssen die Mitarbeitenden in den Einrichtungen wissen, welche sozialrechtlichen Ansprüche die Flüchtlinge mit Handicaps haben.

epd: Welche besonderen Rechte haben sie denn?

Weiser: Flüchtlinge mit Behinderung sind besonders schutzbedürftig. Sie haben also unter anderem ein besonderes Anrecht auf medizinische Versorgung und psychologische Betreuung. Dazu verpflichtet vor allem die EU-Aufnahmerichtlinie. Die Regelungen wurden aber nicht umfassend ins deutsche Recht umgesetzt.

epd: Inwiefern?

Weiser: Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben Asylsuchende zum Beispiel in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts kein Anrecht auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Die medizinische Versorgung ist auf bestimmte Leistungen beschränkt. Dazu gehört primär die Versorgung bei akuten Erkrankungen. Dazu kommen weitere Leistungen, die im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind. Was das genau einschließt, muss immer individuell von den Sozialämtern entschieden werden. Wenn jetzt zum Beispiel ein Kind ein Hörgerät braucht, müssen die Eltern dafür einen Antrag stellen.

epd: Wie lange dauert es, bis so ein Antrag bearbeitet wird?

Weiser: Dass kann man pauschal nicht beantworten. Die Antragssteller müssen gut begründen, warum sie ein Hilfsmittel brauchen und die Prüfung kann längere Zeit in Anspruch nehmen. Wenn der Antrag abgelehnt wird, kann geklagt werden. In dringenden Fällen sollte beim Sozialgericht ein Eilantrag gestellt werden, über den schnell entschieden werden muss.

epd: An wen können sich die Menschen wenden, wenn sie einen Antrag stellen oder rechtliche Schritte einleiten wollen?

Weiser: Bei dem Thema kommen zwei unterschiedliche Bereiche zusammen, das Migrationsrecht und das Sozialrecht. Das Problem ist, dass die meisten Beratungsstellen nur auf einen dieser Bereiche fokussiert sind. Da ist das Spezialwissen nicht vorhanden.

epd: Sie sagten, dass die meisten Beratungsstellen nur auf einen Bereich spezialisiert sind. Es gibt also Ausnahmen?

Weiser: Ja, genau. Es gibt verstreut einzelne Projekte und Beratungsstellen, die sich speziell um Flüchtlinge mit Behinderungen kümmern. Von "Handicap International" gibt es zum Beispiel das Projekt Crossroads, das die Teilhabe von Geflüchteten mit Beeinträchtigungen fördert. Zusammen mit Maren Gag von der "Passage", einer gemeinnützigen Organisation für Arbeit und Integration in Hamburg, habe ich außerdem einen Leitfaden zur Beratung von Migrantinnen und Migranten mit Behinderung verfasst, der es erleichtern soll, sich in das Thema einzuarbeiten.

epd: Was müsste sich ändern, um die Situation von Flüchtlingen mit Behinderungen zu verbessern?

Weiser: Zunächst müssen Verfahren zur Erkennung von Beeinträchtigungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen entwickelt werden, um mit der spezifischen Unterstützung so früh wie möglich beginnen zu können. Außerdem müssen die Strukturen der Behindertenhilfe so geöffnet werden, dass sie auch Flüchtlinge mit Handicaps erreichen. Sehr wichtig wäre es aber auch, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen und den Menschen von Anfang an alle Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse zur Verfügung zu stellen.