sozial-Recht

Landessozialgericht

Erwerbsminderungsrente trotz verweigerter Therapie




Rentenausweis
epd-bild/Heike Lyding
Der Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente ist oft erst dann durchzusetzen, wenn der Antragsteller zuvor versucht hat, mit ärztlicher Hilfe seine Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. Wie das Landessozialgericht Stuttgart urteilte, muss die Rentenversicherung dies aber auch konkret einfordern.

Eine verweigerte medizinische Behandlung stellt noch keine absichtliche Herbeiführung einer Erwerbsminderung dar. Wenn ein alkoholkranker Arbeitnehmer eine Entzugsbehandlung ablehnt, ist damit eine Erwerbsminderungsrente wegen fehlender Mitwirkung noch nicht ausgeschlossen, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 17. Oktober veröffentlichten Urteil.

Sind Beschäftigte wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen ganz oder teilweise dauerhaft arbeitsunfähig, haben sie nach den gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten Menschen, die maximal drei Stunden täglich arbeiten können. Bei einer eingeschränkten täglichen Arbeitsfähigkeit zwischen drei und als sechs Stunden wird eine teilweise, halb so hohe Erwerbsminderungsrente gezahlt.

Alkoholkrankheit und Epilepsie

Im vom LSG entschiedenen Streitfall ging es um einen heute 27-jährigen gelernten Metallarbeiter, bei dem eine Epilepsie und Alkoholkrankheit vorlag. Bei dem unter Betreuung stehenden Mann bestand ein Grad der Behinderung von 100.

Sein Betreuer beantragte 2015 für ihn bei der Rentenversicherung eine volle Erwerbsminderungsrente. Nach zahlreichen Gutachten lehnte die Rentenversicherung bis zuletzt die Zahlung einer vollen Erwerbsminderungsrente ab. Es sei nicht ersichtlich, warum der Mann nach einer Alkoholtherapie zumindest nicht eingeschränkt arbeiten könne.

Doch den Alkoholentzug verweigerte der Mann. Er trinke derzeit sechs bis acht Flaschen Bier am Tag. Ohne den Alkohol würde er vermehrt epileptische Anfälle erleiden, meinte er.

Das LSG sprach dem schwerbehinderten Mann eine volle Erwerbsminderungsrente zu, allerdings befristet für zwei Jahre. Die Gutachten hätten überwiegend die Arbeitsunfähigkeit belegt. Dass der Mann auch die von Ärzten vorgeschlagene Entzugstherapie ablehne, ändere daran nichts.

Zwar könne eine Rente wegen fehlender Mitwirkung ausgeschlossen sein. "Die Verweigerung eines Versicherten, sich ärztlich behandeln zu lassen, stellt für sich genommen keine absichtliche Herbeiführung einer verminderten Erwerbsfähigkeit und damit keinen Ausschlussgrund für die Rentengewährung … dar", stellte das LSG klar. Die fehlende Mitwirkung könne nur dann berücksichtigt werden, wenn der Rentenversicherungsträger den Betroffenen zur Mitwirkung konkret aufgefordert und auf die Folgen einer verweigerten Mitwirkung hingewiesen hat. Dies sei hier nicht geschehen.

Rentner oder Pförtner

Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hatte in einem am 11. Dezember 2019 verkündeten Urteil den Zugang zu einer vollen Erwerbsminderungsrente ebenfalls erleichtert. Danach kann diese auch dann beansprucht werden, wenn Betroffene bestimmte Verrichtungen zwar noch ausführen können und beispielsweise allein eine Tätigkeit als "Pförtner an einer Nebenpforte" infrage komme. Hierfür müssten aber auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich Stellenangebote in relevanter Zahl vorliegen. Andernfalls müsse eine volle Erwerbsminderungsrente gezahlt werden.

Das Hessische LSG in Darmstadt urteilte am 23. August 2019, dass nur teilweise erwerbsgeminderte Arbeitnehmer eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten können, wenn es passende Teilzeitstellen sowohl auf dem regulären Arbeitsmarkt als auch bei dem derzeitigen Arbeitgeber nicht gibt. Arbeitnehmer müssten dabei nicht bei ihrem Arbeitgeber einen möglichen Teilzeitanspruch geltend machen oder gar gerichtlich durchsetzen. Auch wenn sie zur Mitwirkung verpflichtet seien, sehe das Gesetz nicht vor, dass Betroffene einen Teilzeitarbeitsplatz bei ihrem Arbeitgeber einklagen müssen. Das Urteil ist rechtskräftig.

Keine Erwerbsminderungsrente können dagegen besonders gefährliche psychisch kranke Straftäter im Maßregelvollzug erhalten. Denn sobald die geschlossene Unterbringung vor allem dem Schutz der Allgemeinheit dient, stellt dies kein versichertes Risiko dar, das einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente begründet, urteilte das BSG am 25. Mai 2018 zum sogenannten "Heidemörder".

Keine Erwerbsminderungsrente für "Heidemörder"

Der Mann hatte in den 1980er Jahren drei Frauen vergewaltigt und anschließend getötet. Ein Gutachten stellte bei ihm eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und sadistischen Zügen fest. Wegen Mordes wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt und die geschlossene Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet. Arbeiten konnte der Verurteilte dort nicht.

Der Straftäter beantragte schließlich eine volle Erwerbsminderungsrente. Er könne wegen seiner psychischen Erkrankung nicht arbeiten und sei im Maßregelvollzug untergebracht.

Die wesentliche Ursache dafür, dass der Kläger nicht arbeiten kann, liege jedoch an der Gefährlichkeit des Mannes und der deshalb notwendigen Unterbringung, urteilte das BSG und lehnte die Rentenzahlung ab. Die Unterbringung selbst sei kein versichertes Risiko, welches eine Erwerbsminderungsrente begründen könne, urteilte das BSG.

Az.: L 9 R 1667/18 (LSG Stuttgart)

Az.: B 13 R 7/18 R (BSG, Zugang zur Erwerbsminderungsrente)

Az.: L 5 R 226/18 (LSG Darmstadt)

Az.: B 13 R 30/17 R (BSG, "Heidemörder")

Frank Leth