sozial-Branche

Gewalt

Traumatisierende Kinderkuren



Sie sollten sich in einer Kur erholen - aber erlebten Heimweh und Drill: Rund acht Millionen Kinder wurden oft schon im jüngsten Alter wochenlang von ihren Eltern getrennt. Ein Skandal, der erst jetzt Jahrzehnte später die gebührende Beachtung erhält. Ein Buch klärt auf.

Das System "Kinderkur" hat in den 1950er bis 1980er Jahren viele Kinder traumatisiert. Das geht aus Interviews der Historikerin und Autorin Hilke Lorenz mit ehemaligen "Verschickungskindern" hervor. Ihre Recherchen ergaben ein vielschichtiges Bild. "Viele NS-Ärzte fassten in dem geschlossenen System der Kur außerhalb elterlicher Kontrolle nach 1945 wieder Fuß", sagte Hilke Lorenz dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Damit nicht genug: Nach Lorenz' Einschätzung bot gerade dieses geschlossene System Ärzten ein "Setting, um sich im Auftrag von Pharmafirmen an Kindern auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung profilieren zu können". Wie in einem Labor habe die Kur mit ihrer in der Regel sechswöchigen Dauer ideale Rahmenbedingungen für die Tests geboten. Kinder, die dieselben klinischen Symptome mitbrachten, wurden der gleichen Gruppe zugeteilt.

Buch bündelt Schicksale

Beispiele für diese Thesen finden sich in dem neuerschienenen Buch "Die Akte Verschickungskinder". Die Autorin Hilke Lorenz legt darin Missstände offen, die in deutschen Kurheimen zwischen Nordfriesland und Allgäu an der Tagesordnung waren. "Die Berichte, die es noch aus den 1980er Jahren speziell aus dem Haus Concordia auf Borkum gibt, erinnern an schlimmste Erziehungsheime", fasst Lorenz ihre Eindrücke zusammen.

Rund acht Millionen Kinder seien auf Anweisung von Ärzten in eine Kinderkur geschickt worden, schreibt sie. Es habe "eine Kurversorgungsindustrie gegeben", ist Lorenz überzeugt. Ärzte seien dafür bezahlt worden, dass sie Kinder auf Weisung der Kreisjugendämter in die von Schließung bedrohten Erholungsheime schickten.

Nahrungsmangel und Armut

Hintergrund der Kuren war ursprünglich die von Nahrungsmangel und Armut gezeichnete Nachkriegszeit, in der man gerade sensiblen Kindern oder Kindern aus ärmeren Familien für einige Zeit eine Luftveränderung verschrieb. Aus den Dokumenten der Ämter gehe jedoch hervor, dass ab den 1960er Jahren die medizinischen Indikationen für eine Kinderkur abnahmen; stattdessen zog man soziale Gründe wie die Überforderung der Eltern für eine Kur heran.

Zurück gekommen seien die Kinder "oft traumatisiert und verstört". Statt Erholung hätten sie Einsamkeit, Hilflosigkeit und ein Gefühl des Ausgeliefertseins empfunden, resümiert Lorenz. Denn der Ton und die Methoden in den Heimen seien eine Fortsetzung der Haltungen, pädagogischen Konzepte und Ideen aus der NS-Zeit gewesen. Die Konzepte hätten auf der Pädagogik von Johanna Haarer basiert, die diese im Erziehungsratgeber "Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind" verbreitet hatte.

Drill und Gewalt

Statt Erholung erlebten die Verschickungskinder in manchen Heimen Drill und unmenschliche Methoden, wie etwa Erbrochenes essen zu müssen, oder das Verbot, nach 20 Uhr die Toilette zu benutzen. Die Trennung von den Eltern habe bei vielen zu Trennungsängsten geführt, sind sich Psychologen einig. "Verschickt" wurden schon Kleinstkinder. Heimweh sei oftmals schlichtweg ignoriert und "verharmlost" worden, sagt Lorenz.

Lange Zeit blieb die Verschickung in Kinderkurheime unbeachtet. Noch immer sind viele Hintergründe nicht erforscht. Mit einem Kongress 2019 auf Sylt gingen 80 ehemalige Verschickungskinder an die Öffentlichkeit. Seither wächst die Zahl derer, die offen über die Zustände in privaten, staatlichen oder kirchlichen Kinderkurheimen berichten.

"Ein unerzähltes Kapitel Nachkriegsgeschichte"

Der Gang in die Archive bestätigte eigene Ahnungen, verdrängte Ängste und Trauer. "Aktenbefunde und die Gespräche in den Selbsthilfegruppen erbringen jetzt den Beweis, dass die schlimmen Ereignisse während der Kuraufenthalte wirklich geschehen sind", erklärt Lorenz. Sie machen bewusst, dass der Aufenthalt keine Einbildung, sondern Wirklichkeit war.

Für Lorenz steht fest: Die Zustände in den Kurheimen bis in die 1980er Jahre sind ein "unerzähltes Kapitel Nachkriegsgeschichte". "Viele Kleinigkeiten summieren sich hier zu einem großen Skandal", sagt sie. Dass man in sechs Wochen so viel zerstören könne, habe bei ihr ein Gefühl von Wut ausgelöst.

Die Verantwortlichen hätten weggeschaut und nicht wahrhaben wollen, obwohl es in den 70er-Jahren auch eine andere Pädagogik gab. Von den heutigen Trägern der betroffenen Kurheime wünscht sich Lorenz eine umfassende Aufarbeitung der "Verschickungszeit".

Susanne Lohse