sozial-Branche

Gastbeitrag

Pflege

"Den demografischen Wandel aktiv gestalten"




Imme Lanz
DEVAP / Victoria Tomaschko
Kaum eine Entwicklung wird Deutschland so sehr prägen wie der demografische Wandel. Welche Auswirkungen hat er auf unsere Gesellschaft? Was sind die Herausforderungen, wo lauern Gefahren? Ein Gastbeitrag von Imme Lanz, Geschäftsführerin des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege.

Für uns in Deutschland bedeutet demografischer Wandel vor allem eines: Wir werden immer weniger und wir werden immer älter. Das hat Auswirkungen auf nahezu alle Lebensbereiche und wird die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten erheblich beeinflussen. Viele Folgen dieser Entwicklung spüren wir schon heute und sie stellen sowohl die Politik als auch Kommunen, Wohlfahrtseinrichtungen, Wirtschaft und Bürger vor neue Aufgaben.

Mit etwa 81 Millionen Einwohnern ist Deutschland das bevölkerungsreichste Land Europas. Doch bereits seit 1972 geht die Bevölkerungszahl zurück, weil die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten übersteigt. Und dieser Trend hält ungebrochen an. Berechnungen des Statistischen Bundesamts zufolge liegt die jährliche Geburtenziffer seit Ende der 1990er relativ konstant bei 1,4 Kindern je Frau. Gleichzeitig ging jedoch die Zahl der potentiellen Mütter im Alter zwischen 26 und 35 Jahren stark zurück und damit auch die Zahl der Geburten.

Bevölkerungszahl schrumpft auf 75 Millionen

Nach vorübergehender Stabilisierung wird diese Altersgruppe ab 2020 voraussichtlich wieder deutlich schrumpfen, was zu einem erneuten Geburtentief führen könnte. Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland darum um rund sieben Millionen Menschen auf insgesamt 75 Millionen geschrumpft sein. Selbst wenn die Geburtenrate in den kommenden Jahren sprunghaft ansteigen sollte, wird sich das Verhältnis von jüngeren zu älteren Menschen in naher Zukunft weiter stark verändern.

Laut Statistischem Bundesamt wird die Zahl der Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren bis zum Jahr 2050 um mehr als ein Fünftel abnehmen. Weil die durchschnittliche Lebenserwartung aber gleichzeitig weiter steigt, wird der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung zunehmen.

Den Statistikern zufolge waren Ende 2013 in Deutschland rund 17 Millionen Menschen über 65 Jahre alt. Laut Demografiebericht der Bundesregierung werden 2030 die 65-Jährigen und noch älter Bürger fast 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. 2060 wird dann jeder Dritte 65 Jahre und älter sein. Die demografische Alterung unserer Gesellschaft ist unumkehrbar und schon heute haben wir mit ihren Herausforderungen zu kämpfen.

Durch den Bevölkerungsschwund und die gleichzeitige Alterung der Gesellschaft kommt es zu einer steigenden Belastung der sozialen Sicherungssysteme. In der gesetzlichen Rentenversicherung, die nach dem Umlageverfahren organisiert ist, stehen immer mehr Rentenempfänger immer weniger Beitragszahlern gegenüber. Schon heute wird sie deshalb jährlich mit rund 80 Millionen Euro aus Steuermitteln bezuschusst. Die eigentliche demografische Herausforderung steht den Rentenkassen in naher Zukunft jedoch erst noch bevor.

Das Risiko für chronische Erkrankungen steigt

Gleiches gilt für die Kranken- und Pflegeversicherung, denn mit zunehmendem Alter steigt auch das Risiko, an einer chronischen Erkrankung zu leiden oder gar pflegebedürftig zu werden. So steigt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen hierzulande seit Jahren konstant an. Sind heute bereits 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig, wird deren Zahl bis zum Jahr 2050 Schätzungen zufolge auf bis zu 4,5 Millionen ansteigen.

Der demografische Wandel belastet jedoch nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, er kann auch negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft haben. Beides sind die zentralen Voraussetzungen für gesellschaftlichen Wohlstand.

Weil die Zahl der Erwerbstätigen und der Nachwuchskräfte weiter abnimmt, wird sich auch der Fachkräftemangel weiter verschärfen. Ausgerechnet in den sozialen Berufen, wie zum Beispiel der Alten- und Krankenpflege, ist der Mangel an qualifiziertem Personal schon heute deutlich spürbar. So werden Berechnungen der Bertelsmann Stiftung zufolge schon in 15 Jahren bis zu 500.000 Pflegekräfte fehlen. Beachtet man dabei, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis dahin auf 3,4 Millionen Menschen angestiegen sein wird, so wird die drohende Versorgungslücke deutlich.

Eine weitere, schon heute spürbare Folge des Wandels ist die zunehmende Abwanderung aus den strukturschwachen, insbesondere ländlichen Regionen. Weil vorwiegend die jungen Menschen abwandern, sinkt dort zugleich die Geburtenrate. Zurück bleiben die sozial Schwachen und die Alten - in der Regel ohne eine altengerechte Infrastruktur und mit eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten.

Überalterte Regionen contra Boomregionen

Schon heute stehen sich bevölkerungsarme, überalterte Regionen und sogenannte Boomregionen gegenüber. Diese Tendenz wird sich - ohne ein politisches und gesellschaftliches Umdenken - in Zukunft weiter verstärken. Alle sind gefordert, umzudenken zu handeln Doch auch, wenn der Bevölkerungsrückgang und die Alterung kurzfristig unabwendbar sind, können ihre negativen Folgen abgemildert werden.

Und weil wir alle betroffen sein werden, sind wir alle gefordert, umzudenken und zu handeln. Gesellschaft, Politik, Kommunen, Industrie und Wirtschaft müssen sich fragen: Was können wir tun, damit unsere Gesellschaft wieder wächst und wie muss eine Gesellschaft aussehen, die ihren Alten ein würdevolles Leben und umfassende gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht?

Um eine langfristige Zunahme der Bevölkerungszahl zu erreichen, brauchen wir vor allem eine Familienpolitik, die Menschen in ihrer Bereitschaft Familien zu gründen fördert. Dazu müssen wir nur ein wenig über den eigenen Tellerrand, zu unseren nördlichen Nachbarn schauen.

Länder wie Dänemark, mit einer durchschnittlichen Geburtenziffer von 1,78 Kindern pro Frau beweisen, dass sich höhere Kinderzahlen nicht durch hohes Kinder- oder Betreuungsgeld erreichen lassen, sondern vor allem durch staatliche Investitionen in die Infrastruktur, die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen.

Ein positiver Nebeneffekt wäre außerdem eine steigende Beschäftigungsquote von Frauen. So lag laut Eurostat der Anteil erwerbstätiger Frauen in Deutschland im Jahr 2012 bei gerade einmal 52,5 Prozent, in Dänemark waren zum selben Zeitpunkt 60 Prozent der Frauen erwerbstätig.

Auch wenn wir den Fachkräftemangel durch ausländische Fachkräfte allein nicht decken können, brauchen wir in Deutschland ein Umdenken in der Zuwanderungspolitik. Qualifizierte Migranten sollten nicht nur gezielt angeworben werden, sondern sie müssen Bedingungen vorfinden, die ihnen und ihren Familien ein dauerhaftes Bleiben in Deutschland ermöglichen. Und auch unter den derzeit zu uns gelangenden Flüchtenden sind viele qualifizierte Menschen, die mit einer entsprechenden sprachlichen Ausbildung und mit behutsamer Begleitung sicher geeignet sein können, klaffende Lücken auf dem Fachkräftemarkt zu schließen.

Alternsformen sind vielfältiger geworden

Unser Bild vom Alter ist noch immer geprägt von der Angst vor körperlichem und geistigem Abbau, Verlust und Hilfsbedürftigkeit. Doch die Alternsformen sind vielfältig und schon längst bedeutet alt sein nicht mehr automatisch hilflos und abhängig zu sein.

Und so gibt es der 6. Altenbericht der Bundesregierung vor: Politik, Wissenschaft und Medien sind gefordert, ein gesellschaftliches Umdenken anzustoßen, das sich neben der notwendigen Fürsorge auch an den Stärken und Gestaltungsspielräumen des Alters orientiert. Ein neues, positives Altersbild ist zugleich die Voraussetzung dafür, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenziale einer älter werdenden Generation zu erkennen.

Alte Menschen dürfen nicht als Last, sondern müssen als Stütze unserer Gesellschaft anerkannt werden. In der Praxis bedeutet das unter anderem die Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit, die Förderung und Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements und Ehrenamts sowie der barrierefreie Zugang zu Bildungsangeboten.

Wir brauchen eine altengerechte Infrastruktur. Jeder Mensch hat ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. In einer immer älter werdenden Gesellschaft müssen sich deshalb sowohl die Konzepte der Stadtentwicklung als auch die Konzepte der medizinischen und pflegerischen Versorgung den Bedürfnissen älter werdender Menschen anpassen. Hierzu gehören eine altengerechte Verkehrsführung, barrierefreier öffentlicher Nahverkehr, eine altengerechte Wohnungsplanung und die Erreichbarkeit von Supermärkten, Arztpraxen und Apotheken.

Auch selbstorganisierte Senioren-WGs oder ambulant betreute Wohngemeinschaften, Quartiers- und Generationenhäuser oder Tagespflegen müssen weiter ausgebaut und gefördert werden, weil sie dem Wunsch der Menschen, solange wie möglich im eigenen Wohnumfeld leben zu können, entsprechen.

Umbau von Einrichtungen besser fördern

Aber auch der Aus- und Umbau stationärer Pflegeeinrichtungen ist von Städten und Gemeinden aktiv zu unterstützen, denn eine Zunahme des Anteils älterer Menschen in unserem Land bedeutet auch, dass der Anteil an pflegebedürftigen Menschen steigt und viele von ihnen werden auch in Zukunft auf vollstationäre Pflege in Einrichtungen angewiesen sein.

Das Land hat dabei die Aufgabe, den pflegepolitischen Rahmen zum Ausbau der Pflegeinfrastruktur abzustecken und über eine verbindliche Planung auf kommunaler Ebene umzusetzen. Dabei muss eine bedarfsorientierte Versorgung älterer Menschen auch in strukturschwachen und ländlichen Regionen gesichert sein.

Um das Leben in unserer Gesellschaft auch zukünftig altersgerecht zu gestalten, müssen kleinräumige, professionelle Angebote ausgebaut und die gelebte Solidarität im Sozialraum gefördert werden. Dazu bedarf es einer aktiven Sozialpolitik, einer steuernden Altenhilfeplanung und einer Wiederbelebung der kommunalen Daseinssorge. Denn die Koordinierung der örtlichen Akteure, wie Kostenträger, Leistungserbringer, Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen oder bürgerschaftlich engagierte Gruppen, erfordert wegen des örtlichen Bezuges zwingend eine kommunale Federführung.

Die Kommunen müssen deshalb gesetzlich dazu verpflichtet werden, die Pflegeinfrastruktur sicherzustellen. Sie müssen ihre Verantwortung im Bereich der Altenhilfe ebenso ernst nehmen wie zum Beispiel die Kinderbetreuung. Selbstverständlich müssen sie dafür vom Bund auskömmlich finanziell ausgestattet werden.

Dabei muss das Rad nicht neu erfunden werden, denn es gibt bereits eine bestehende Pflegeinfrastruktur, die es zu nutzen gilt. Die Einrichtungen und Dienste der Diakonie verstehen sich schon heute als Pflegewohnhäuser, Quartiershäuser oder Generationenhäuser mit stationären und ambulanten Dienstleistungen sowie altengerechten Wohnungen oder Hausgemeinschaften. Sie wollen sich ohne bürokratische Hemmnisse in ihrem städtischen Quartier oder der dörflichen Gemeinschaft als Zentren der vernetzten Versorgung vor Ort weiter etablieren und darüber hinaus auch andere soziale oder kulturelle Angebote wie Kindertageseinrichtungen, Vereins- oder Initiativräume, Gewerberäume oder Praxen für Ärzte und Therapeuten einschließen.

Wandel auch als große Chance begreifen

Die diakonische Altenhilfe versteht sich als Bindeglied im Quartier und hat dazu bereits viele Projekte initiiert. Beispielhaft seien hier das Unterstützungsnetzwerk "Gemeinsam in Steinheim - GeiSt" oder das Projekt "WohnQuartier4" in Nordrhein-Westfalen genannt. Bund, Länder und Kommunen sind nun gefordert, endlich weg von der befristeten Projektförderung, hin zu einem flächendeckenden Ausbau mit einer Regelfinanzierung zu kommen.

Die demografische Entwicklung und der fortschreitende Strukturwandel werden unsere Gesellschaft spürbar verändern und der Druck auf die gewachsenen politischen und sozialen Strukturen steigt. Aber der demografische Wandel ist auch eine große Chance. Für eine sozial gerechtere Politik, für das Aufbrechen antiquierter Rollen- und Altersbilder, für die Renaissance einer Kultur gegenseitiger Verantwortung sowie einer Kultur des Willkommens für Menschen, die gerne in unserem Land leben und arbeiten wollen.

Imme Lanz ist Geschäftsführerin des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP).

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