Ausgabe 09/2016 - 04.03.2016
Würzburg, Marburg (epd). Auch hörbehinderte Menschen wollen studieren, sie möchten an Bildungsmaßnahmen und öffentlichen Vorträgen teilnehmen. Dies gelingt immer häufiger durch Schriftdolmetscher, die simultan mitschreiben, was ein Dozent oder Referent spricht. Auf seinem Laptop liest der Gehörlose dies in Echtzeit mit. Mirien Carvalho ist seit kurzem eine solche Schriftdolmetscherin. Neun Monate lang qualifizierte sich die von Geburt an blinde Frau hierzu am Berufsförderungswerk (BFW) Würzburg.
Um zu arbeiten, muss die frischgebackene Schriftdolmetscherin nicht quer durch die Republik zu Tagungen und Symposien reisen. Das Internet macht es möglich, dass die 46-Jährige viele Aufträge zu Hause in Marburg bearbeiten kann. Ein hörbehinderter Mensch nimmt zum Beispiel an einer wissenschaftlichen Tagung in Kassel teil. Carvalho ist dem Kongress online zugeschaltet. Sie hört sich an, was der Referent erzählt, schreibt mit und versucht parallel, die Informationen so aufzubereiten, dass der Hörbehinderte mit ihrem Text klarkommt. Sie fasst zusammen und gliedert ihre Mitschrift durch Punkte, Kommas, Fragezeichen und Absätze: "So, dass ein gut lesbarer Text entsteht."
Vor einem Jahr entschied sich das in Veitshöchheim bei Würzburg etablierte Berufsförderungswerk, den bundesweit ersten Lehrgang "Schriftdolmetscher" für Blinde und Sehbehinderte anzubieten. Acht Männer und Frauen aus allen Teilen Deutschlands, die nicht oder nur sehr wenig sehen, nahmen daran teil. Während des Kurses kamen sie zu 20 Präsenztage in das BFW. Zwölf Stunden lang wurde jeder Teilnehmer einzeln gecoacht. Insgesamt 70 Stunden dauerte das verpflichtende Online-Praktikum. Zudem galt es, sich das ABC des Schriftdolmetschens durch intensive Selbstlernphasen selbst anzueignen.
Blinde Schriftdolmetscher müssen sich im Vergleich zu ihren sehenden Kollegen noch einmal spezielles Know-how aneignen, erläutert Mirien Carvalho. So muss die in der Branche etablierte Technik, also etwa die Online-Konferenz-Software, die Transkriptions-Software für das Anschlagen von Buchstabenkombinationen und Kürzeln sowie das Spracherkennungsprogramm mit der technischen Ausstattung zusammenpassen, die ein blinder Mensch für die Arbeit am Computer benötigt. Carvalho: "Also mit der Sprachausgabe, dem Screenreader und der Braillezeile."
Ideengeberin des Lehrgangs war Irmgard Badura, Beauftragte der Bayerischen Staatregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Schriftdolmetscher leisten nach ihren Worten einen entscheidenden Beitrag dafür, dass hörbehinderte Menschen am gesellschaftliche Leben teilhaben und einer Arbeit nachgehen können: "Wobei ihr Nutzen noch darüber hinausgeht." Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten, die den Gedanken eines Referenten während eines Vortrags nicht so schnell zu folgen vermögen, könnten von der Arbeit der Schriftdolmetscher profitieren.
Am 1. Juni wird die nächste Gruppe blinder und sehbehinderter Menschen den neunmonatigen Lehrgang beginnen. Teilnehmen können Interessenten, die sehr schnell schreiben, ein gutes auditives Gedächtnis, das Talent zum selektiven Hören sowie eine schnelle Auffassungsgaben haben. Die verschiedenen Methoden des Schriftdolmetschens werden ihnen unter anderem von Jan Jawinski beigebracht. Der 49-Jährige aus Zwickau ist der erste Blinde, der in Deutschland Schriftdolmetscher wurde.
Vor 13 Jahren nahm Jawinski als einziger Blinder in Dresden an der bundesweit ersten Schulung von Schriftdolmetschern teil. Heute ist der BFW-Dozent Vorsitzender des in Berlin etablierten Bundesverbands der Schriftdolmetscher. Die Nachfrage nach Menschen, die für Hörbehinderte Gesprochenes schriftlich übersetzen, steigt nach seinen Beobachtungen kontinuierlich an: "Denn es gibt inzwischen einen Rechtsanspruch hierauf, von dem auch immer mehr Hörbehinderte erfahren."