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"Wir haben beim Clearing fachlich richtig gehandelt"




Olaf Forkel
epd-bild/Günter Distler
An der Einführung der Clearingverfahren und der bundesweiten Umverteilung junger unbegleiteter Flüchtlinge im Vorjahr gab es viel Kritik. Inzwischen ist es ruhig geworden um die zuvor vielbeachtete Flüchtlingsgruppe. Doch wie steht es um die Clearingverfahren? Funktioniert das System. Und wie bewerten es die Betroffenen?

Olaf Forkel, Vorstand der Rummelsberger Dienste und Chef der Jugendhilfe bei dem diakonischen Träger, sieht die Clearingstellen für junge unbegleitete Flüchtlinge auf dem richtigen Weg. Sie leisteten "trotz der Herausforderung durch die hohen Zugangszahlen hervorragende Arbeit", sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese Einrichtungen übernehmen im Auftrag der Jugendämter die Inobhutnahme und klären alle weiteren Fragen rund um die persönliche Situation der Jugendlichen. Forkel verweist auf eine Evaluation der Clearingstellen in Bayern, an der die Rummelsberger beteiligt sind. Über erste Ergebnisse aus dieser Untersuchung sprach der Experte mit Dirk Baas.

epd sozial: Das Wichern Institut, eine Kooperation der Evangelischen Hochschule Nürnberg und der Rummelsberger Diakonie, hat die aktuelle Clearingpraxis untersucht. Dieses Verfahren müssen alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland durchlaufen. Was ist das Ziel dieser Studie?

Olaf Forkel: Ziel der Evaluation der Clearingstellen ist die Weiterentwicklung des Organisationsprozesses der Clearingstelle. Im Mittelpunkt standen folgende Fragen: Wie ist auf die aktuelle Situation der Clearingstellen konzeptionell zu reagieren? Welche Prozesse und Standards sind unverzichtbar?

epd: Wie ist die Untersuchung angelegt?

Forkel: Im ersten Schritt wurde der Ist-Zustand ermittelt. Dabei ging es etwa darum, welche Standards im Clearingverfahren vorliegen und eingehalten werden, zum Beispiel Zeitvorgabe, räumliche und personelle Ausstattung. Auch die Wirkung des Clearingverfahrens sowie die Qualitätsansprüche der Mitarbeitenden wurden untersucht.

epd: Und was folgt dann?

Forkel: Im weiteren Verlauf geht es um die konzeptionelle Weiterentwicklung. Es soll erhoben werden, wo Optimierungsbedarfe und -perspektiven sowie Chancen durch bessere Vernetzung der Akteure des Clearingprozesses liegen.

epd: Was sind bisher die zentralen Ergebnisse? Funktionieren die Clearingstellen?

Forkel: Die Clearingstellen leisteten im vergangenen Jahr trotz der Herausforderung durch die hohen Zugangszahlen hervorragende Arbeit. Die Nachfolgeeinrichtungen wissen die Qualität des Clearingberichts und der Übergabe eines „geclearten Flüchtlings“ zu schätzen.

epd: Wie belegen sie diese Aussage?

Forkel: Das wurde uns von allen beteiligten Jugendämtern immer wieder bestätigt. Jugendliche, die das Clearing hinter sich haben, sind einschätzbar und auch auf das Kommende vorbereitet. Es scheint für die jungen Menschen ein zentraler Inhalt zu sein, in einer Einrichtung anzukommen, die von Fachkräften besetzt ist, die sich auch über die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der jungen Flüchtlinge auskennen, die über ein Netzwerk muttersprachlicher vertrauensvoller Sprachmittler verfügen. Durch das Clearingverfahren wird ein Jugendlicher zielsicher in die richtige Hilfeform geleitet. Probleme entstehen vermehrt, wenn das Clearingverfahren nicht oder unzureichend ausgeführt worden ist.

epd: Ist die personelle Ausstattung ausreichend, um die vielen Aufgaben in Kooperation mit den Jugendämtern innerhalb der vorgegeben Fristen zu bewältigen?

Forkel: Ich denke, dass wir in mehr als 90 Prozent der Fälle mit den Zeitvorgaben hinkommen, wir eher noch schneller sind. Es stellen uns eigentlich immer nur diejenigen Menschen vor Herausforderungen, für die keine geeignete Unterbringungsmöglichkeit gefunden werden kann. Das kam auch in der Studie zum Vorschein: Der Flaschenhals war die Aufgabe der Jugendämter, geeignete Wohnformen zu finden.

epd: Was sind die individuellen Gründe dafür, dass sich ein Clearingverfahren länger hinzieht?

Forkel: Das sind meist Fälle, die stark emotional belastet sind und wo der Flüchtling eines besonderen Schutz bedarf. Dafür sind die Wohnplätze sehr rar. Die wohl interessanteste Verlängerung einer Clearingphase kam dadurch zustande, dass ein junger Mann uns mitteilte, er sei in einer fundamentalistischen Koranschule gewesen und habe für den heiligen Krieg auf den Koran geschworen. Wir haben dann mit einem uns bekannten Imam Kontakt aufgenommen und es dauerte eine ganze Weile, bis alle Gespräche mit dem Jugendlichen geführt waren. Dann aber konnte er ohne Angst alle Eide zurücknehmen und wurde dam von seinem Imam freigesprochen.

epd: Aber Fälle wie dieser sind eine Ausnahme?

Forkel: Ja, und ich kann sagen, dass die personelle Ausstattung der Clearingstellen bei normalen Zu- und Abgangszahlen ausreichend ist. Es kristallisierte sich bei der Erhebung jedoch heraus, dass die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Kooperationspartnern, insbesondere der Jugendämter und Vormünder, zu Verzögerungen im Verfahren führte. Dieses Ergebnis ist aber zu großen Teilen auch dem hohen Zugang an Jugendlichen im Jahre 2015 geschuldet, denn dadurch kam es zu Personalengpässen, während zugleich neu angestelltes Personal erst eingearbeitet werden musste.

epd: Die Clearingstellen sollen den Alltag der Schutzsuchenden strukturieren, ihnen Sicherheit bieten, Schulunterricht vermitteln und ihre Freizeit gestalten. Würden Sie sagen, all das funktioniert?

Forkel: Die bisherigen Ergebnisse der Studie spiegeln eine hohe Zufriedenheit der Jugendlichen mit ihrer Betreuung wieder. Dem ersten Eindruck nach ist unsere Hoffnung bestätigt, fachlich richtig gehandelt zu haben. Clearing ist ein Erfolgsmodell, jedoch möchte ich darauf hinweisen, dass wir im nächsten Schritt durch biografische Interviews noch vertieft auf diese Fragestellung eingehen werden.

epd: Das Verfahren sollte maximal drei Monate dauern? Was für Fristen haben Sie ermittelt?

Forkel: Die dreimonatige Dauer des Clearingverfahrens wäre der geeignete Standard. Nachdem es aber nun durch gesetzliche Vorgabe und Umverteilung eine einmonatige vorläufige Inobhutnahme gibt, muss das Clearingverfahren auf zwei Monate verkürzt werden, damit Jugendliche nach drei Monaten endlich dauerhaft an einem gesicherten, Aufenthaltsort leben können. Ideal ist zum Beispiel der Standort Nürnberg, weil wir in der Zukunft alle Jugendlichen in der Clearingstelle aufnehmen werden, auch diejenigen, die in die bundesweite Verteilung müssen. Somit haben die verbleibenden Jugendlichen keinen zusätzlichen Abbruch, frisch geknüpfte Beziehungen können aufrecht gehalten werden.

epd: Eine Aufgabe im Clearingprozess ist auch die Klärung des Alters der jungen Flüchtlinge durch die Jugendämter. Umstritten ist das Prozedere dazu seit Jahren. Wie wird das Alter ermittelt und welche Erkenntnisse haben Sie dazu gewonnen?

Forkel: Die Klärung der Altersangabe ist hoheitliche Aufgabe der Behörden, die sie in verschiedenen Bundesländern auch unterschiedlich handhaben. Meiner Ansicht nach kann man aufgrund kultureller Unterschiede im Aufwachsen von Kindern das Alter nicht anhand des Aussehens oder körperlicher Merkmale feststellen. Die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen machen sich durch gezielte Verhaltensbeobachtung und weitere Anamneseverfahren im Clearingverfahren ein Bild über erworbene Kompetenzen, Ressourcen und Hilfebedarf. Dann enttarnen sich ältere Bewohner unter den jungen Menschen sehr schnell.

epd: Oft sind die Familien während der Flucht getrennt worden, das Clearingverfahren soll auch helfen, Angehörige wieder zusammenzuführen. Wie oft geschieht das?

Forkel: In etwa fünf Prozent der Fälle werden Eltern oder sorgeberechtigte Verwandte wiedergefunden. Es kommen noch zehn Prozent Verwandte wie Onkel oder Tanten hinzu, die den Jugendlichen aufnehmen wollen. Das bringt einen Untersuchungsprozess mit sich, der die Dauer des zweimonatigen Clearingverfahrens deutlich überschreitet, sowie Probleme der Zusammenführung, wenn sich diese Verwandten etwa in anderen Bundesländern befinden.

epd: Sie sitzen in Bayern, das wegen der Belastung durch die Aufnahme vieler unbegleiteter Flüchtlinge das bundesweite Verteilverfahren maßgeblich mitbetrieben hat. Wie ist die Lage heute im Freistaat?

Forkel: Heute haben wir in Bayern mit der Ausnahme von München durch die Umverteilung einen sehr starken Rückgang der Flüchtlingszahlen zu verzeichnen. Das zwingt Träger der Jugendhilfe zur Schließung von Einrichtungen und damit leider auch zur Entlassung von Personal. Junge Kollegen, die jetzt Erfahrung in dieser Arbeit gesammelt haben, sich professionalisiert haben, werden auf die Straße geschickt. Wohlwissend, dass wir wieder in die Verteilung kommen werden und dass in anderen Bundesländern jetzt das gleiche oder ähnliche Chaos herrscht, wie wir es vor anderthalb Jahren hatten. Anstatt jetzt unsere Strukturen zu nutzen, müssen wir sie abbauen, nur weil der Verwaltungsakt der Messung am Königsteiner Schlüssel im Vordergrund steht.

epd: Wie würden sie die Verteilung bundesweit beurteilen? Haben alle Jugendämter inzwischen ihre Hausaufgaben gemacht?

Forkel: Die Jugendämter, die erst 2015 mit der Aufnahme von UMF begonnen haben, haben sehr unterschiedliche Standards entwickelt. Eine pauschale Aussage lässt sich hier nicht treffen.

epd: Zuletzt sind Stimmen aus verschiedenen Bundesländern laut geworden, ein Zwei-Klassen-System in der Jugendhilfe zu etablieren, um die Standards für junge Flüchtlinge zu senken, vor allem aus Kostengründen. Wie bewerten Sie diese Initiative?

Forkel: Ein Zwei-Klassen-System in der Jugendhilfe kann es nicht geben, das würde Grundsätze des Rechtsstaats aushebeln. Das Grundgesetz und das SGB VIII stellt die Familie und die jungen Menschen unter einen besonderen Schutz. Das ist eine Klarheit und Sicherheit auf die wir stolz sein können. Wichtig ist, diesen jungen Menschen Bildung zugeben, dafür muss sich Jugendhilfe einsetzen und nicht in eine mehr als fragwürdige Kostendiskussion verfallen. Jeder der das tut, spielt den sich in unserem Land sich breitmachenden Populisten in die Hände.


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