Ausgabe 08/2017 - 24.02.2017
Frankfurt a.M. (epd). Die Gewerkschaften sind zurück auf den Straßen: Anfang Februar streikten in drei Bundesländern Tausende Lehrer, im Zusammenhang mit der laufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst. Jetzt liegt zwar eine Einigung vor, doch ruhiger wird es damit um die Gewerkschaften sicher nicht: Das Gesetz zur Tarifeinheit ist von existenzieller Bedeutung für die Vertreter der Arbeitnehmerschaft - und beschäftigt jetzt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Das umstrittene Regelwerk entstand 2015 - nach wochenlangen Kita-Streiks in jenem Jahr, in dem auch Lokführer und Piloten streikten. Über die "Streikrepublik Deutschland" erregten sich nicht nur die Arbeitgeber. Kleine Gewerkschaften wie die der Lokführer (GdL) strapazierten mit ihrem Aufstand über Monate die Nerven der Bahnkunden. Infolge der schier endlosen Streiks entstand das Gesetz zur Tarifeinheit - über das nun die Richter des Bundesverfassungsgerichts grübeln.
Sein Kern ist auch sein Streitpunkt: Überschneiden sich in einem Betrieb mehrere Tarifverträge, gilt nur der der Gewerkschaft, die dort die meisten Mitglieder hat. Klage eingereicht haben elf Gewerkschaften - Berufsgewerkschaften wie die Klinikärzte im Marburger Bund und die Vereinigung Cockpit, aber auch die DGB-Gewerkschaft ver.di, die sich damit gegen den eigenen Dachverband stellt. "Ein Betrieb, ein Tarifvertrag", das will der DGB, gesetzlich geregelt. Genau wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BDA: "Wenn die Solidarität im Betrieb durch Einzelinteressen torpediert wird, zerfasert unsere Tarifordnung", erklärt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer.
Die klagenden Gewerkschaften sehen sich dagegen durch das Gesetz in ihrer grundgesetzlich garantierten Vertragsfreiheit und auch beim Streikrecht beschnitten. Und die kleinen sogar in ihrer Existenz bedroht. "Wir sind in den Kliniken immer die Minderheit", sagt Marburger-Bund-Sprecher Hans-Jörg Freese. "Wir werden gerne als unsolidarisch dargestellt, weil wir uns ausschließlich für Ärzte einsetzen. Ärzte haben aber eine Sonderrolle in Klinken." Eine viel längere Ausbildung zum Beispiel.
"Wer tritt in eine Gewerkschaft ein, die ihre Interessen gar nicht durchsetzen kann?", drückt Freese die Sorge der Berufsgewerkschaften aus. Für einen Vielleicht-Einfluss gehe keiner in die Gewerkschaft, fürchtet auch Jens Schubert, ver.di-Rechtsexperte und Klagevertreter. "Das Gesetz zerfasert damit auch Flächentarifverträge", sagt er.
Dabei erholen sich die Mitgliedszahlen gerade. 20,6 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert, zeigen die Daten des arbeitgebernahen Instituts der Wirtschaft in Köln - und bescheinigen eine "Trendwende unter Vorbehalt". Vor zehn Jahren waren es 18 Prozent. "Gewerkschaften sind wieder angesagter unter Arbeitnehmern", sagt Stefan Schmalz, Arbeitssoziologe an der Uni Jena.
Auf der anderen Seite: Immer weniger Unternehmen binden sich an Tarifverträge: Nur 15 Prozent der Betriebe, wie die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen. 45 Prozent der Beschäftigten bekommen Tariflohn. Die Zahlen sind uneinheitlich: Das Forschungsinstitut der Bundesanstalt für Arbeit IAB kommt auf 29 Prozent Tarifbetriebe. Mit sinkender Tendenz.
"Und jetzt gibt es ein Gesetz, das nur Gewerkschaften in Sachen Tarifeinheit regulieren will", sagt ver.di-Mann Schubert. Arbeitgeberverbände akzeptierten dagegen zunehmend Firmen ohne Tarifbindung als Mitglied. "Das schwächt die Tarifautonomie." Arbeitgeberpräsident Kramer sieht auch das komplett anders: Es sei ein Angebot für Firmen, die nie tariflich gebunden waren, und begleite sie oft zu Haustarifverträgen. Das sei "segensreich".