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Gesundheit

Studenten übersetzen Medizinerlatein für Laien




Beatrice Brülke bearbeitet im Büro der Initiative "Was hab ich?" die Anfrage eines Patienten.
epd-bild/Matthias Rietschel
"Was hab ich?" - Das Medizinerlatein in Arztbriefen kann Patienten zur Verzweiflung bringen. Eine Dresdner Initiative hilft beim Übersetzen und Erklären. Und Patienten merken: Manche Diagnosen klingen bedrohlicher, als sie sind.

Arztbriefe können bei Patienten völlige Ratlosigkeit auslösen. Wenn es etwa heißt: "In der flüssigkeitssensitiven Sequenz Nachweis eines ausgeprägten Knochenmarködems an der ventralen Zirkumferenz des Humeruskopfes" - dann versteht das ohne medizinische Vorbildung wohl keiner. Wer soll schon wissen, dass es sich in diesem Fall um eine Flüssigkeitseinlagerung im Knochenmark des Oberarmkopfes vorn handelt?

Übersetzungsservice auf Erfolgskurs

Diagnosen werden im Medizinerlatein verfasst. Arztbriefe sind für einen anderen Mediziner geschrieben, von Experte zu Experte sozusagen. Doch Patienten möchten gern verstehen, was drin steht. Schließlich geht es um ihre Gesundheit.

Hilfe kommt von der Dresdner Initiative "Was hab ich?": Medizinstudenten und Ärzte übersetzen Befunde kostenlos in eine verständliche Sprache - ehrenamtlich. Der Patient lädt seine Diagnose anonymisiert auf die Plattform hoch, der Befund wird aus dem Ärztelatein in ein verständliches Deutsch übersetzt und an den Patienten zurückgesendet.

Zwei Medizinstudenten und ein Informatiker kamen im Januar 2011 auf die Idee, seitdem ist der Übersetzungsservice auf Erfolgskurs. Aus der fixen Laune heraus wurde eine gemeinnützige GmbH. Seit kurzem gibt es sogar einen Ableger in der Schweiz.

Erste Anfrage schon nach zwölf Minuten

"Die Nachfrage war sehr schnell sehr groß", sagt Mitbegründer und Geschäftsführer Ansgar Jonietz: "Zwölf Minuten, nachdem wir online gegangen sind, kam die erste Anfrage." Es gibt keinen Tag ohne Patientenanfrage.

"Seit dem Start sind wir dauerhaft überlastet", sagt Jonietz. Die Idee sei ihnen gekommen, weil sie immer wieder privat angefragt wurden: "Du hast doch Medizin studiert, kannst du mir das mal erklären?" So oder ähnlich habe es immer wieder geheißen. Jonietz weiß heute: "Wir haben den Finger in eine Wunde gelegt."

Inzwischen wurde ein virtuelles Wartezimmer eingerichtet. Denn pro Tag kann nur eine begrenzte Zahl von Befunden übersetzt werden. Jeweils um sieben Uhr am Morgen wird der Service freigeschaltet.

"Wir schaffen rund 100 Befunde pro Woche", sagt Jonietz. Eine Übersetzung dauere etwa fünf Stunden. Neben Medizinstudenten beteiligen sich auch aktive sowie pensionierte Ärzte an dem Projekt. Etwa 1.500 Menschen waren insgesamt schon für "Was hab ich?" tätig.

Für Patienten leicht nachvollziehbar

Aktuell sind bundesweit rund 100 Experten aktiv - von Kiel, Lübeck und Rostock bis Jena, München und Regensburg. Manche übersetzen jeden Tag, andere sporadisch. Seit 2011 wurden rund 32.000 medizinische Befunde verständlich aufgeschrieben.

Neben zeitlichen Grenzen gibt es auch formale: Die Einsendung des ärztlichen Befundes darf zwei DIN-A4-Seiten nicht übersteigen. Eine Übersetzung ist dann aber mindestens doppelt so lang. Denn neben allgemeinen Informationen zum Fall werden auch anatomische Sachverhalte erklärt und Abbildungen erstellt - etwa der Aufbau der Schulter oder des Bauchraumes.

"Der Patient sollte alles leicht nachvollziehen können", sagt Jonietz: "Was wir nicht leisten, sind jegliche Interpretationen, Zweitmeinungen bei Verdachtsdiagnosen oder gar Therapienempfehlungen."

Sina Springhetti ist eine der ehrenamtlichen Übersetzer. Seit etwa einem halben Jahr ist die Medizinstudentin aus Hannover dabei. Auf "Was hab ich?" sei sie an ihrer Hochschule über eine Informationsmail gestoßen. Zunächst habe sie einfach nur wissen wollen, wie das Projekt funktioniert, sagt die 25-jährige Studentin. Inzwischen hat sie schon einige Befunde übersetzt.

Diagnose erstmals verstanden

Sich verständlich auszudrücken, "das schult auch für den späteren Beruf", ist sie überzeugt. Vor allem aber könne bei "Was hab ich?" sehr ausführlich erklärt werden, was die Patienten haben. Der Arzt am Krankenbett, das hat Springhetti schon im Studium erfahren, habe "total wenig Zeit". Ausführliche Gespräche seien kaum möglich.

Das führe dazu, dass Patienten nach einer Untersuchung oder bei der Entlassung aus dem Krankenhaus zwar einen Arztbrief in der Hand hielten, aber oft selbst nicht so genau wüssten, woran sie leiden. "Manche Diagnosen klingen bedrohlicher als sie sind", sagt die angehende Ärztin, "so entstehen auch Missverständnisse."

Derzeit sind sieben Mitarbeiter in der Dresdner Zentrale tätig. "Was hab ich?" arbeite unabhängig und nicht gewinnorientiert, sagt Jonietz. Die Initiative wolle Arzt und Patient auf Augenhöhe bringen. Zahlreiche Auszeichnungen hat sie bereits erhalten, unter anderem wurde Jonietz 2016 vom Gesundheitswirtschaftsmagazin "kma" zum "Manager des Jahres" gekürt. Gern und häufig höre das Team von Patienten: "Zum ersten Mal habe ich meine Erkrankung verstanden."

Katharina Rögner

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