Ausgabe 44/2017 - 03.11.2017
Stuttgart (epd). Kornelia Birkemeyer wird den Moment nie vergessen, als sie nach ihrer ersten schweren psychischen Krise in einer Klinik aufwachte - genau dort, wo sie Jahre zuvor als Gesundheits- und Krankenpflegerin gearbeitet hatte. Der Raum, in dem sie lag, kam ihr bekannt vor. Es war das Isolierzimmer, in dem sie früher selbst psychisch kranke Menschen untergebracht hatte. "Da wusste ich sofort, was los war", erzählt sie.
In den nächsten Jahren erlebte sie drei weitere Krisen, beantragte eine Erwerbsminderungsrente und setzte sich intensiv mit ihrer Krankheit auseinander. Dabei erfuhr sie von der EX-IN-Ausbildung, in der psychiatrie- und krisenerfahrene Menschen zu Genesungsbegleitern ausgebildet werden. EX-IN steht für die Einbeziehung von Erfahrenen (englisch: Experienced Involvement) bei Hilfsangeboten für psychisch kranke Menschen. Die ausgebildeten Genesungsbegleiter arbeiten in psychiatrischen Angeboten wie Krankenhäusern, Betreutem Wohnen und Beratungsstellen mit.
Kornelia Birkemeyer war dabei, als 2010 die erste Gruppe ihre einjährige Ausbildung in Stuttgart begann. Eine neue berufliche Perspektive eröffnete sich für sie: "Mich hat ermutigt, dass mein Erfahrungswissen gefragt ist. Meine Defizite wurden zum Werkzeug sozialer Arbeit."
Laut Jörg Utschakowski, Vorstand des Vereins EX-IN Deutschland, "können Genesungsbegleiter in allen Bereichen der Psychiatrie die Qualität verbessern". Ihre Erfahrungen schafften einen Zugang zu Menschen, der von Fachkräften oft nicht hergestellt werden könnte. Schon alleine dadurch, dass die Genesungsbegleiter in der Lage sind, als Berater, Begleiter oder Fürsprecher zu arbeiten, vermittelten sie Menschen in psychischen Krisen das Gefühl, "dass man es schaffen kann, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt", sagt Utschakowski.
Vor zwölf Jahren wurde in einem europäischen Projekt die EX-IN-Ausbildung entwickelt. Mittlerweile wird sie an mehr als 30 Standorten in Deutschland, Österreich, Schweiz sowie Italien, Polen und Bulgarien angeboten. Daran haben nach den Angaben rund 1.000 Menschen teilgenommen. Rund 400 bis 600 Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung arbeiten deutschlandweit bereits als ausgebildete Genesungsbegleiter.
Seit 2012 ist die 57-jährige Birkemeyer im Gemeindepsychiatrischen Zentrum (GPZ) der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) angestellt. Zurzeit begleitet sie dort eine Frau im ambulanten betreuten Wohnen. "Ich bin ein Stückweit Vorbild für sie, weil es mir auch so ging wie ihr und ich damals auch dachte, es geht nicht weiter." Birkemeyer unterstützt ihre Klientin dabei, ihren Alltag wieder selbst in die Hand zu nehmen. Seit einiger Zeit traut sich ihre Klientin wieder selbst zu, Arzttermine am Telefon auszumachen, was die Genesungsbegleiterin als einen ersten Erfolg einstuft.
In diesem Jahr feiert Birkemeyer ihr ganz persönliches Jubiläum: Bereits seit zehn Jahren lebt sie krisenfrei. Sie ist überzeugt: "Jeder hat das Potenzial in sich, von einer psychischen Erkrankung wieder zu genesen."