sozial-Branche

Sozialverbände

"Tafel-Debatte ist Ausdruck politischen Versagens"




Ehrenamtliche Mitarbeiterin der in die Schlagzeilen geratenen Essener Tafel.
epd-bild/Thomas Berend
Die Essener Tafel hatte mit ihrem Aufnahmestopp für Ausländer erst Empörung geerntet, dann Verständnis erfahren. Das Abarbeiten am Einzelfall geht am Thema aber vorbei, finden Sozialverbände. Verfehlte Sozialpolitik verursache neue Verteilungskämpfe.

Vor dem Hintergrund der Debatte um die Essener Tafel macht ein Bündnis aus Sozialverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen die Politik für drohende neue Verteilungskämpfe verantwortlich. "Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt die Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssen, ist Ausdruck politischen Versagens in diesem reichen Land", heißt es in einer am 6. März in Berlin vorgestellten Erklärung des Bündnisses, dem unter anderen der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Bundesverband der Tafeln, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Arbeiterwohlfahrt angehören.

Die Essener Tafel hatte mit ihrem Beschluss, keine Ausländer mehr anzunehmen, für Schlagzeilen gesorgt und eine Debatte über soziale Leistungen für Deutsche und Migranten ausgelöst. Für Kritik sorgt das auch beim Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, Ulrich Schneider. Die Entscheidung sei ganz objektiv eine ethnische Diskriminierung und müsse korrigiert werden, sagte er.

"Arme nicht gegeneinander ausspielen"

Das Bündnis aus insgesamt mehr als 30 Organisationen warnte zugleich, arme Menschen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es sei ein Skandal, dass die politisch Verantwortlichen das seit Jahren bestehende Armutsproblem verharmlosten. "Damit drohen neue Verteilungskämpfe", heißt es in der Erklärung.

Die Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz, Barbara Eschen, sagte, nicht die Flüchtlinge hätten Probleme verursacht, sondern eine verfehlte Sozialpolitik sei dafür verantwortlich. "Die Menschen werden schon seit Jahren zu den Tafeln getrieben", sagte die Direktorin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg. Die Tafeln seien bereits vor der Fluchtbewegung zu "Ausputzern" geworden. Flüchtlinge würden zu Sündenböcken gemacht für Missstände, die es bereits ohne sie gegeben habe, sagte der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, dessen Organisation auch Teil des Bündnisses ist.

Staat müsse Existenzminimum garantieren

Die Organisationen erneuern in ihrer Erklärung die Forderung nach einer Erhöhung der Regelsätze in der Altersgrundsicherung, für Hartz-IV-Empfänger und der Leistungen für Asylbewerber, die unter denen der Sozialhilfe liegen. "Die Sicherung des Existenzminimums ist Aufgabe des Sozialstaates und nicht privater Initiativen und ehrenamtlichen Engagements", sagte Schneider.

Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes rechnete vor, im Hartz-IV-Regelsatz seien für einen Single pro Tag 4,77 Euro für Ernährung vorgesehen, für größere Kinder 3,93 Euro und für Kinder im Vorschulalter 2,77 Euro. Damit seien die Tafel kein Zusatz mehr, sondern stellten das Existenzminimum sicher. Dafür sei aber der Staat zuständig.

Schneider kritisierte, der Koalitionsvertrag greife das Thema Armut nicht genügend auf. Über Hartz-IV-Regelsätze sei kein Wort darin zu lesen. Das Bündnis werde hier weiter "Druck aufbauen", kündigte er an.

Brühl nimmt Regierung in die Pflicht

"Die letzten Wochen haben gezeigt, wohin es führt, wenn der Staat ehrenamtliche Hilfsorganisationen wie die Tafeln mit Aufgaben alleine lässt, die größer sind als sie selbst", sagte Jochen Brühl, der Vorsitzende des Verbandes Tafel Deutschland. Er nahm die künftige Regierung in die Pflicht: Die Zahl der Armen in Deutschland müsse nachhaltig gesenkt werden. "Spätestens in zwei Jahren werden wir sehen, ob die großen Ansprüche erfüllt werden konnten und damit die Hoffnungen von Millionen."

Brühl sprach sich dafür aus, eine armutsfeste Entlohnung im Erwerbsleben, eine gerechtere Anerkennung von Betreuungszeiten von Kindern und Eltern im Rentenrecht sowie armutsfeste Mindestrenten und Grundsicherungsleistungen im Alter durchzusetzen. Unzureichend sei jedoch die Einführung der Grundrente, mit der ein neues "Klassensystem" der Alterssicherung geschaffen würde.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier meldete sich ebenfalls zu Wort. Er mahnte am 7. März in der Debatte um den Essener Aufnahmestopp für Ausländer zu einer differenzierten Sicht. In einem Interview mit der "Saarbrücker Zeitung" stellte er sich schützend vor die Politik, nahm sie zugleich aber auch in die Pflicht.

"Es ist nicht alles auf die Höhe von staatlichen Transferzahlungen zurückzuführen", sagte Steinmeier angesichts dessen, dass Tafeln deutschlandweit immer stärker frequentiert werden: "Klar ist aber auch: Die Politik muss Sorge dafür tragen, dass es nicht zu einer Konkurrenz der Bedürftigen kommt, die sich dann auch noch aggressiv äußert."

Corinna Buschow

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