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Die vergessenen Nazi-Opfer von Aichach




Besucher im kleinen Museum in der Justizvollzugsanstalt Aichach.
epd-bild/Muenchner Pressebuero
Sie standen lange im Schatten des Vergessens: Die Frauen der Justizvollzugsanstalt Aichach, dem größten Frauengefängnis in Bayern während der NS-Zeit. Hier waren "Asoziale" eingesperrt, Frauen wurden zwangssterilisiert. Jetzt kommt Licht ins Dunkle.

Zeitweilig waren in der für 500 Insassen gebauten Haftanstalt bis zu 2.000 Frauen untergebracht. Deren Leid solle nicht vergessen werden, betont das Frauenforum Aichach-Friedberg. Es wirbt für einen würdigen Gedenkort für die NS-Opfer von Aichach - und hat den Historiker Franz Josef Merkl mit Nachforschungen beauftragt.

Unter den Inhaftierten waren auch bekannte Frauen wie die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. In Aichach wurden auch sogenannte "asoziale" Frauen zwangssterilisiert und mehr als 360 Frauen aus der "Sicherheitsverwahrung" nach Auschwitz in den Tod geschickt.

Lange Zeit ohne jede Beachtung

"Viel zu lange wurde bei all den Bemühungen zur Aufarbeitung der Nazizeit den Frauen in der Strafanstalt keine Beachtung geschenkt", sagt Forumssprecherin Jacoba Zapf. In der Tat weist nichts in der schwäbischen Kreisstadt Aichach mit ihren rund 21.000 Einwohnern auf die Verbrechen hin, die während der Nazizeit im Frauengefängnis geschahen, von Aufarbeitung oder gar Entschädigung und Anerkennung als Opfer des NS-Regimes ganz zu schweigen.

Zwar existiert in dem 1909 in Betrieb genommen Gefängnis mit heute 433 Haftplätzen für Frauen ein kleines historisches Museum, das aber nicht explizit die NS-Historie beleuchtet. Gezeigt werden unter anderem ein gynäkologischer Behandlungsstuhl, Gefängniskleidung oder eine Kamera, die Fotos für die Verbrecherkartei lieferte.

In einer Ecke ist zu lesen, dass eine Gefangene, Anna G., am 19. Februar 1940 43 Nägel, 10 Näh- und zwei Stecknadeln verschluckte - Nägel und Nadeln sind zu besichtigen. Warum Anna G. sich diese Tortur angetan hat, bleibt ebenso unklar wie das gesamte Konzept der Ausstellung.

Verharmlosung des Massenmordes

Ohne weitere Erklärung bleiben auch diese acht Zeilen aus der NS-Zeit: "Im 'Gefangenenbuch Sicherungsverwahrung' verzeichnete Überstellungen beginnen mit 8.12.1942 'an Polizei überstellt', danach ab Januar 1943 'mit Auschwitz überstellt'." Für die meisten Häftlinge bedeutete die Überstellung in ein KZ das sichere Todesurteil. Offiziell hieß das "Strafunterbrechung" – eine verharmlosende Bezeichnung für den erfolgten Massenmord.

Den verschiedenen Frauenschicksalen ist nun im Auftrag des Frauenforums der Historiker Franz Josef Merkl auf der Spur. Finanziert wird die Recherche von mehreren lokalen Sponsoren. Merkl zeigt etwa auf, wie sich unter den Nazis die Zahl der eingesperrten Frauen mehr als verdreifachte. Zählte man 1933 noch 691 Gefangene, stieg diese Zahl bis 1945 auf 2.000, hinzu kamen an die 1.000 Frauen in den Außenlagern.

Zu ihnen zählten viele Frauen, die wegen Wehrkraftzersetzung (also der Kritik am Krieg) oder sogenannten Rundfunkverbrechen wie dem Abhören von ausländischen Radiosendern verurteilt waren. Auch sogenannte "asoziale" Frauen kamen hier hinter Gitter, wobei die Nazis unter diesem Begriff alles fassten, was vom angeblich "gesunden Menschenverstand" abwich. Unter diese "Ballastexistenzen" fielen Alkoholkranke ebenso wie "Arbeitsscheue", Landstreicher, Langzeitarbeitslose, Bettler oder Prostituierte.

110 Fälle der Zwangssterilisierung nachgewiesen

Für die "Reinhaltung der Rasse" wurden in Aichach auch Frauen zwangssterilisiert. Historiker Merkl konnte anhand von Rechnungen mindestens 110 dieser Zwangsmaßnahmen nachweisen.

Das Frauenforum möchte dauerhaft an die gepeinigten Frauen erinnern, auch weil sie als "Asoziale" bis heute nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt sind. Wie das genau aussehen wird, als Tafel oder Stele etwa, in der Stadt Aichach oder nahe dem Gefängnis, ist derzeit noch unklar. Es gehe zunächst um eine öffentliche Diskussion, die angestoßen wird.

Bewegung gibt es auch in der Frage der Anerkennung der Opfer. Eine Initiative um den Frankfurter Soziologieprofessor Frank Nonnenmacher hat eine Petition an den Bundestag auf den Weg gebracht, um zwei der letzten Opfer-Gruppen zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Initiator dringt darauf, die "Berufsverbrecher" und die "Asozialen" in einer gemeinsamen Entschließung "die Anerkennung der ehemaligen KZ-Häftlinge mit den schwarzen und grünen Winkeln als Opfer des Nationalsozialismus auszusprechen". 15.000 Unterschriften werden gebraucht: Derzeit sind es knapp 11.000.

Rudolf Stumberger

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