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Interview

Lilie warnt vor Gefahren für die Demokratie




Diakoniepräsident Ulrich Lilie
epd-bild/Jürgen Blume
Die Diakonie sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zustimmung zur Demokratie gefährdet. Grund dafür sei, dass sich "viele Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen", sagte der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, im Interview mit dem epd.

Der Bundesverband der evangelischen Wohlfahrt hat vor gut einem Jahr die Kampagne "Unerhört!" gestartet. Damit gibt sie Menschen, die sich von der Gesellschaft ausgegrenzt sehen, im Internet und auf Diskussionsforen eine Stimme. Über soziale Defizite und die Wirkung der Diakonie-Kampagne sprach Jörg Fischer mit Diakoniepräsident Ulrich Lilie.

epd sozial: Herr Lilie, Sie sehen die Demokratie in Gefahr. Wie kommen Sie darauf?

Ulrich Lilie: Viele Menschen in unserem Land fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Welt wird unübersichtlicher, das Tempo steigt und die Gerechtigkeit droht auf der Strecke zu bleiben. Menschen auf dem Land oder in armen Kommunen erleben, dass ein Betrieb nach dem anderen dicht macht und sie ihre Arbeit verlieren, dass Supermärkte schließen und Bahn- oder Busverbindungen eingestellt werden.

In den Metropolregionen dagegen boomt die Wirtschaft. Hier sind nicht nur alle Annehmlichkeiten des Lebens vorhanden, sondern auch eine soziale Infrastruktur, die meist noch kostenlos ist.

In Ostdeutschland fühlen sich Menschen mit ihren Lebensverläufen nicht gesehen, ihre Qualifikationen werden nicht anerkannt und die guten Jobs werden immer noch von Wessis besetzt. Dies alles gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zustimmung zur anstrengenden Staatsform Demokratie.

epd: Ihr Rezept gegen den Wut und den Hass vieler Menschen in unserem Land lautet: "Zuhören". Was meinen Sie damit?

Lilie: Im aktuellen digital-medialen Lärm sind nur noch wenige Menschen bereit, ihrem Gegenüber wirklich zuzuhören, respektvoll miteinander zu diskutieren und auszuhalten, dass nicht alle Menschen einer Meinung sind. Es wird viel zu viel übereinander und viel zu wenig miteinander gestritten und gesprochen.

Das Miteinander-Reden, die Begegnung werden in unserer immer vielfältigeren Gesellschaft aber immer wichtiger. Wir müssen wieder lernen, das Gespräch auch mit Kritikern und Fremden nicht abbrechen zu lassen – sofern sie bereit sind, auch mir zuzuhören. Wir sollten uns viel öfter auch das sagen lassen, was wir nicht hören wollen. Das übt. Davon lebt Demokratie.

epd: Die Diakonie Deutschland hat im vergangenen Jahr die Kampagne "Unerhört!" gestartet, die bis 2020 laufen soll. Ist sie in ihren Augen bereits ein Erfolg?

Lilie: Unbedingt. Das Motto unserer Unerhört!-Kampagne ist "zuhören" und das machen wir auch. Auf unserer Kampagnenwebsite unerhört.de kommen die Menschen zu Wort, die sich nicht gehört fühlen: Obdachlose, Flüchtlinge, besorgte Bürger, Migrantenkinder, Alte. Auf Unerhört!-Foren in ganz Deutschland habe ich mit Menschen gesprochen, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen und habe mir ihre Lebensgeschichten angehört. Mit ihnen haben wir dort mit politisch Verantwortlichen und Akteuren der Zivilgesellschaft diskutiert und nach Lösungen für neue Fragen gesucht.

Mittlerweile ist "Zuhören" als neue Herausforderung angekommen in der Gesellschaft. In Bürgerdialogen suchen Politiker nicht nur in Wahlkampfzeiten das Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern. Es gibt eine Stiftung Zuhören, die das Zuhören als soziale und kulturelle Grundfertigkeit fördern will. Die Kultusministerkonferenz hat Zuhören zum Bildungsstandard erklärt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Neujahrsansprache die Menschen zum Zuhören aufgefordert. Wir haben da eine wichtige Fährte aufgenommen.

epd: Die Diakonie spricht mit ihrer Kampagne vor allem die Abgehängten in unserer Gesellschaft an ...

Lilie: So versteht sich die Diakonie ja auch: Wir wollen die Stimme derjenigen sein, die sonst keine Lobby haben. Ziel der Kampagne ist, Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und das Miteinander in unserer Gesellschaft anzustoßen und auf diese Weise die Demokratie zu stärken. Denn nur im Gespräch ist die Demokratie lebendig. Und nur eine sozial gerechte Demokratie wirkt überzeugend.

epd: Als Chef der Diakonie gehören Sie zu den Privilegierten in unserer Gesellschaft. Wie sprechen Sie diese "Unerhörten" an?

Lilie: Die Diakonie ist ja richtig dicht dran an diesen Menschen und so nutze ich als Präsident auch die Chance, vieles zu hören und wahrzunehmen. Ich gehe auf die Menschen zu und höre mir ihre Geschichten an. Um nur einige Beispiele zu nennen: Ich habe bei der "Migrantenmedizin" – einer Sprechstunde für Migranten ohne Krankenversicherung - ein "Präsidentenpraktikum" absolviert. Ich habe bei einem Mittagstisch Essen an bedürftige Menschen ausgeteilt und bin mit dem Mitternachtsbus mitgefahren, um Obdachlose mit Decken und heißen Getränken zu versorgen. Ich begleite Pflegekräfte bei ihrer Arbeit, besuche wohnungslose Frauen in einer Notunterkunft und ich habe mit Flüchtlingen in Flüchtlingslagern in Griechenland und Serbien gesprochen. Die meisten Menschen freuen sich, wenn man sich Zeit für sie nimmt und sie in ihrer Lebenssituation ernst nimmt.

epd: Können Sie deren Alltagsprobleme wirklich nachempfinden?

Lilie: Bevor ich Präsident der Diakonie wurde, war ich alleinverdienender Pfarrer mit vier Kindern. Da ist man nicht mit Reichtümern gesegnet. Sie haben aber recht, ich habe noch nie meine Heimat oder meine Familie verloren, nicht Krieg oder Terror erlebt, Diskriminierung oder Gewalt, Hunger oder Durst gelitten, wie es Obdachlose oder Menschen auf der Flucht tun.

Aber ich bin in meinem Berufsleben und selbstverständlich auch privat immer wieder Menschen in unterschiedlichsten Notlagen und prekären Lebenslagen sehr konkret begegnet. Und wenn ich diesen Menschen zuhöre, mir ihre Geschichte erzählen lasse, entsteht Nähe und Augenhöhe. Und meine Aufgabe ist es unter anderem, diese Geschichten dort weitererzählen, wo sie gehört werden müssen: zum Beispiel gegenüber der Politik.

epd: Die Frustrierten sind ja noch viel mehr. Eine große Zahl von Menschen aus der Mittelschicht, denen es ja eigentlich momentan gutgeht, machen sich Sorgen um die Zukunft und unterstützen deshalb AfD und Pegida. Was sagen Sie denen?

Lilie: Es gibt es keine einfachen Antworten auf die großen Herausforderungen der Zeit wie Globalisierung, Digitalisierung, Migration. Aber diese Herausforderungen werden nicht kleiner, wenn wir uns nach einer vermeintlich guten alten Zeit zurücksehnen. Die Probleme können nur von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam bewältigt werden. Und wir können sie bewältigen. Diakonie und Kirche verstehen sich dabei als Teil der Lösung, übernehmen Verantwortung. Sie sind vor Ort mit bewährten Strukturen wie Stadtteiltreffs, Tafeln, Kitas, Tagespflege. Sie kennen die Probleme im Kiez, im Quartier und können neue Bündnisse mit anderen Akteuren eingehen. Den Zuschauerdemokraten sage ich: "Engagiert euch auch!" Der Staat ist auf eine aktive Bürgerschaft angewiesen. Und etwas tun, etwas gegen die Ursachen der Zukunftsangst zu unternehmen, ist das beste und nachhaltigste Rezept gegen Frust und Angst.

epd: Ihr Credo ist: "Hinter jeder einfachen Antwort stehen komplexe Fragen". Das Fragen dürfe man nicht Populisten überlassen. Was sind für Sie "richtige" und wichtige Fragen?

Lilie: Wichtige Fragen sind für mich, wie wir in unserer sich transformierenden Gesellschaft Gerechtigkeit, Bildung und Teilhabe, Wohnen und Pflege gewährleisten können. Es ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt verheerend, wenn es in Deutschland immer noch vom Portemonnaie der Eltern abhängt, welche Bildungs- und Ausbildungschancen ein Kind hat. Ein Thema mit hohem sozialen Sprengstoff ist das Wohnen. Wenn sich selbst der Mittelstand die Mieten in unseren Städten nicht mehr leisten kann, stimmt etwas nicht. Wie verändern wir das? Wie können Menschen Selbstwirksamkeit und Anerkennung erfahren in einer immer unübersichtlicher erscheinenden Welt? Das scheinen mir wichtige Fragen zu sein.

epd: Für Sie ist das "Zuhören" ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt. Was kommt danach?

Lilie: Das werde ich oft gefragt. Unsere Kampagne läuft jetzt ein Jahr lang und die Leute fragen: Und was kommt jetzt? Wann fangt ihr endlich an, Antworten zu geben? Da sage ich: Wir müssen das noch ein bisschen aushalten. Nicht gleich wieder Antworten geben wollen, sondern weiter zuhören. Noch besser hören und verstehen, welche Themen die Menschen umtreiben. Aber die eben formulierten Fragen wollen beantwortet werden, da ist umsichtiges Handeln gefragt.

epd: Was können Kirchen und Verbände tun?

Lilie: Die Kirchengemeinden haben eines der besten Filialnetze der Welt. Wir sind mit unseren Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen in fast allen Sozialräumen aktiv. Wir sollten gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und anderen Partnern versuchen, Bündnisse zu schaffen: Dafür, dass alte Menschen selbstbestimmt alt werden können, in ihren vertrauten Räumen. Dafür, dass Kinder auch in schwierigen Vierteln eine vernünftige Kindheit haben dürfen. Dafür, dass Dialoge vor Ort stattfinden. Dass wir Feste auch mit anderen Gruppen zusammen feiern. Wir können mit anderen dafür sorgen, dass das Zusammenleben der immer unterschiedlicher werdenden Menschen vor Ort gelingt. Das wäre ein positiver Ansatz für die Probleme vor Ort, aber auch ein Erweis des gesamtgesellschaftlichen Nutzens zivilisierter Religion, von Kirche und Diakonie in einer religiös immer vielfältigeren Gesellschaft.

epd: Sie sehen sich als "Lobbyist" der Sozialpolitik. In Berlin gibt es Tausende von Lobbyisten, vor allem von großen Unternehmen. Wie sehen Sie den Einfluss der Sozialverbände im Politikbetrieb?

Lilie: Zu unseren Aufgaben gehört, der Bundesregierung zu zeigen, wie sich ihre Gesetzgebung auf bestimmte Zielgruppen auswirkt. Die Vorstände und Fachleute der Diakonie Deutschland erarbeiten Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben, wir werden zu Anhörungen in den Bundestag eingeladen. Die Politik nimmt unsere Expertise ernst, das erleben wir in Gesprächen mit Politikern aus Parlament und Regierung. Konkreten Erfolg hatten wir mit unserer Forderung nach einer flächendeckenden unabhängigen Asylverfahrensberatung. Sie wurde in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Ebenso geht das Finanzierungsmodell "Passiv-Aktiv-Transfer", das Langzeitarbeitslosen Teilhabe an Arbeit statt lebenslanger Alimentierung ermöglichen soll, auf ein Konzept der Diakonie zurück.