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Armut

Streit über den Nutzen der Obdachlosenzählung




Obdachloser in einem Tunnel
epd-bild/Rolf Zöllner
Nach der Zählung von Obdachlosen in Berlin liegen erste Daten auf dem Tisch. Experten warnen davor, die Zahlen überzubewerten. Weitere Erhebungen müssten folgen - und die Sozialpolitik auf die neuen Erkenntnisse reagieren.

Politiker, Forscher und Betroffene diskutieren über die Ergebnisse der ersten Zählung von Menschen, die in Berlin auf der Straße leben. Hatten Obdachlosenvertreter die öffentlich breit angekündigte "Nacht der Solidarität" Ende Januar schon vorab als "würdelosen Vorgang" ohne Effekte abgelehnt, so ist jetzt strittig, wie aussagefähig die erhobenen Zahlen sind. Im Vergleich zu vorherigen Schätzungen wurden bei der Aktion deutlich weniger Betroffene als erwartet angetroffen. Eigentlich ist das eine gute Nachricht - wenn sie denn wahr ist.

Trotz medialem Gegenwind hält Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) die Zählaktion für einen Erfolg. "807 obdachlose Menschen wurden in einer Januarnacht auf Berlins Straßen angetroffen. Etwa ein Drittel dieser Menschen hat den Zählteams über ihre Lebenssituation berichtet." Jetzt wisse man mehr über das Alter obdachloser Menschen, ihr Geschlecht, woher sie kommen und erstmals auch, wie lange sie schon wohnungslos sind.

Breitenbach: Guter Richtwert

Breitenbach spricht von einem ganz guten Richtwert. Die Basis für weitere Schritte in der kommunalen Sozialpolitik sei gelegt. "Wir werden jetzt die Daten der einzelnen Zählräume auswerten und in Zusammenarbeit mit den Bezirken sowie den Akteurinnen und Akteuren der Wohnungslosenhilfe überprüfen, welche Hilfsangebote vor Ort verbessert werden müssen" - auch wenn die Dunkelziffer vermutlich hoch bleibt.

Aber wie belastbar das Datenmaterial ist, das 2.600 Ehrenamtler bei ihren Streifzügen durch die nächtliche Metropole gesammelt haben, ist umstritten. Bislang waren Schätzungen von 6.000 bis 10.000 obdachlosen Menschen in Berlin ausgegangen. Bei der Zählung trafen die Freiwilligen jedoch "nur" 807 auf der Straße und 942 in Einrichtungen der Kältehilfe an. Und: Aus Sicherheitsgründen machte die Helferschar einen Bogen um Parks und Grünlagen.

Erklärungsnot gibt es auch bei der ermittelten Herkunft der Personen. Fachleute aus der Obdachlosenhilfe betonen, Klienten, die in der Beratungsarbeit und in den Tageseinrichtungen registriert würden, stammten bis zu 80 Prozent aus EU-Ländern. Bei der Zählung waren es "nur" 49 Prozent".

"Viele hatten Angst, gezählt zu werden"

"Viele Betroffene hatten wohl Angst oder wollten nicht gezählt werden. Das ist zu verstehen und zu respektieren", sagte die Berliner Caritas-Direktorin Ulrike Kostka dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Dass bei der Zählung Diskrepanzen aufgetaucht sind, mag daran liegen, dass von den insgesamt 1.976 gezählten Personen nur 250 Personen bereit waren, in einem Fragebogen schriftlich Auskunft über sich zu geben - unter anderem zu ihrer Herkunft."

Dennoch sei die Obdachlosenzählung "ein wichtiger Schritt für Berlin", betonte Kostka. Sie sollte ein erster Baustein für eine dringend benötigte Wohnungsnotfallstatistik sein. Diese Statistik könnte nach ihren Worten alle Fäden der Berliner Wohnungslosenhilfe zusammenführen.

"Es würden vergleichbare Zahlen von Menschen erhoben, die in den Notunterkünften der Stadt untergebracht sind, ergänzt durch diejenigen, die in anderen öffentlich geförderten Wohnformen wie Betreutem Einzelwohnen, Kriseneinrichtungen, Übergangshäusern und Frauenhäusern leben." So bekomme man valide Erkenntnisse über das tatsächliche Ausmaß der Wohnungslosigkeit in Berlin und könne Angebote systematisch anpassen und verbessern. In anderen Bundesländern wie in Nordrhein-Westfalen oder Baden Württemberg existierten bereits solche Wohnungsnotstatistiken.

Betroffene: Nutzen nicht erkennbar

Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen betonte dagegen, ein Nutzen der Zählung sei "nicht erkennbar". Und: "Es ist für Menschen, die auf der Straße leben, ein würdeloser Vorgang, gezählt zu werden, ohne dass die Situation grundlegend verändert wird." Die Zählung habe nur eine Alibifunktion, lautet die Kritik.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) verteidigt die Aktion. Sprecherin Werena Rosenke sagte, man brauche nun mal verlässliche Datengrundlagen, wo man bisher allein auf Schätzungen angewiesen sei. Aber: "Aus den so gewonnenen Erkenntnissen müssen unbedingt Maßnahmen erfolgen, mit denen wohnungslose Menschen bedarfsgerecht versorgt werden."

Auch Sozialforscher betonen, die Zählung sei wichtig und richtig gewesen. Aber: "Die Zahlen belegen den Forschungsbedarf. Mehr nicht", sagt Nikolaus Meyer, Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationalen Hochschule. Doch müsse man sich auch mit der Kritik an der Aktion und mit dem von Betroffenen geäußerten Paternalismusvorwurf auseinandersetzen. "Die Politik braucht deutschlandweit verlässliche Zahlen zur angemessenen Ausgestaltung des Hilfesystems. Bisher hat man die Wohnungsnotfallhilfe deutschlandweit mit Hilfe von Vermutungen finanziert. So kann es nicht weitergehen."

Für das Thema sensibilisiert

Ein Effekt sei trotz vielerlei Bedenken an der Aktion nicht zu unterschätzen: "Die Zählung hat die Gesellschaft für das Thema Obdachlosigkeit sensibilisiert und gezeigt, dass da Menschen am Rand unserer Gesellschaft sind und wir uns fragen müssen, ob wir das so wollen. Das ist ein Riesenerfolg."

Zu den vorgelegten Daten sagte der Fachmann, die Zählung gebe wichtige Impulse zur Altersverteilung: 28 Prozent der Befragten seien 50 Jahre und älter. "Bisher haben wir deutschlandweit gerade für ältere Obdachlose nur sehr unzureichende Hilfemöglichkeiten und die vorzeitige Alterung ist auf der Platte extrem."

Susanne Gerull, Armutsforscherin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mit-Initiatorin der "Nacht der Solidarität", sagte bei der Vorstellung der ersten Resultate: "Die Zählung ist nach allen Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung erfolgreich durchgeführt worden. Es gab keine systematischen Verzerrungen. Subjektive Einschätzungen, wie viele Menschen sich womöglich versteckt haben, um nicht gezählt zu werden, sind sozialwissenschaftlich nicht haltbar."

Die Obdachlosenvertretung lässt sich auf solche Einwände nicht ein. Sie bleibt bei ihrer grundsätzlichen Distanz: "Wir können nicht erkennen, dass der Senat auf Grundlage der Zählung bezahlbare und menschenwürdige Wohnungen schaffen, bauen oder erwerben wird."

Dirk Baas


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