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Armut

"Erwartungen an Obdachlosenzählung runterschrauben"




Nikolaus Meyer
epd-bild/privat
Die detaillierte Auswertung der Berliner Obdachlosenzählung läuft. Doch weil sich viele Menschen bewusst nicht zählen ließen, ist fraglich, wie belastbar die Daten sind. Nikolaus Meyer von der IUBH Internationalen Hochschule, sagt, die Zählung sei nur eine Momentaufnahme, auf die weitere Erhebungen folgen müssten.

Nikolaus Meyer spricht mit Blick auf die Obdachlosenzählung in Berlin "vom Stand einer Nacht im Januar". Weitere Zählungen müssten zwingend folgen, sagte der Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationalen Hochschule in Erfurt, zu dessen Arbeitsschwerpunkten auch die Wohnungslosigkeit gehört, im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd). Ein valides Bild über die Zahl der Betroffenen lasse sich nur zeichnen, wenn man eine Jahresgesamtzahl ermittelt. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Professor Meyer, Sie warnen vor zu großen Erwartungen nach der ersten Obdachlosenzählung in Berlin. Warum?

Nikolaus Meyer: Die Zählung vermittelt den Stand einer Nacht im Januar. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht mehr und auch nicht weniger. Wir kennen die konstante Zahl von obdachlosen Menschen in Berlin über das gesamte Jahr nicht. Wer im Vorfeld der Aktion eine ganz "sichere" Zahl erwartet hat, hat das Phänomen der Obdachlosigkeit nicht verstanden. Es ist ja durch Mobilität und dem Wunsch nach einem sicheren Rückzugsort geprägt.

epd: Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den vermuteten Zahlen von Menschen, die in der Hauptstadt auf der Straße leben, und jetzt den erhobenen Daten. Kann es wirklich sein, dass sich mehrere Tausend Betroffene bewusst versteckt haben?

Meyer: Es kann natürlich sein, aber es ist doch extrem unwahrscheinlich. Es wäre sicher viel zu kurz gegriffen, wenn man die Diskrepanz zwischen der vermuteten Zahl von 6.000 bis 10.000 obdachlosen Menschen und die tatsächlich gezählten 1.976 Menschen mit dem Verstecken einzelner Menschen erklären wollte.

epd: Aber was könnten dann mögliche Gründe sein?

Meyer: Sicher sind einzelne Obdachlose in angrenzende Kommunen gewechselt, ganz sicher waren auch Personen in den Parks, wo ja nicht gezählt wurde. Ebenso wurde nicht in Abrisshäusern oder auf Privatgrundstücken gezählt. Es gibt also schon gute Gründe davon auszugehen, dass die Zahl etwas höher als ermittelt liegt.

epd: Wie belastbar sind die jetzt ermittelten Daten?

Meyer: Die ermittelten Daten lassen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eine wichtige Momentaufnahme zu. Insgesamt bräuchten wir in der gesamten Bundesrepublik eine dauerhafte Beobachtung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Diese wird, trotz eines entsprechenden Gesetzentwurfs, aber auch in Zukunft nicht möglich sein. Das ist sehr bedauerlich und eigentlich auch ziemlich unverständlich.

epd: Besteht angesichts falscher Zahlen nicht die Gefahr, am tatsächlichen Bedarf vorbeizuagieren?

epd: Wenn die nun ermittelte Zahl verabsolutiert wird, wäre das ein Bärendienst. Allerdings ist ja aktuell auch völlig offen, ob und welche Reformen nun konkret auf dieser Zählungen beruhen werden. Wir wissen dabei weiter nicht, welche Wellen sich innerhalb eines Jahres in Berlin oder anderswo unter obdachlosen Menschen vollziehen. Der Mehrwert der Zählung liegt aus meiner Sicht auch weniger in der konkreten Zahl der obdachlosen Menschen. Immerhin wissen wir über die wohnungslosen Menschen noch immer nichts und die sind jederzeit von Obdachlosigkeit bedroht.

epd: Sehen Sie einen anderen Weg, um eine Zählung zu machen, die validere Zahlen ergibt?

Meyer: Die einzige Möglichkeit wäre eine Gesetzgebung, die die wichtigen Erfahrungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) berücksichtigt. Immerhin werden hier seit Jahrzehnten entsprechende Untersuchungen vorgenommen. Die Bundesregierung sollte auch prüfen, ob nicht zusätzlich zur Stichtagsregelung auch eine Jahresgesamtzahl erhoben werden kann. Durch eine Jahresgesamtzahl werden auch jene Menschen erfasst, die vor dem Stichtag wohnungslos waren, es aber zum Stichtag nicht mehr sind und auch diejenigen, die erst nach dem Stichtag wohnungslos werden.

epd: War es wirklich sinnvoll, diese Aktion so in den öffentlichen Fokus zu rücken, denn damit bestand ja die Gefahr, dass die Betroffenen abtauchen?

Meyer: Es geht ja nicht darum, dass Tiere gezählt werden. Da hat die Betroffenen-Selbsthilfe absolut recht. Nein, eine heimliche Zählung wäre völlig falsch gewesen und rechtlich sicher mehr als fragwürdig.

epd: Was sollte man daraus lernen, wenn auch andere Städte nun eigene Zählungen machen wollen?

Meyer: Ehrlicherweise müsste man vor allem die Erwartungen runterschrauben. Man kann nicht in einer Nacht Daten erheben und glauben, dass man damit auf alle Zeit genau weiß, wie viele obdachlose Menschen in einer Stadt leben. Insofern halte ich die angewendete Methode deutschlandweit für nutzbar. Der eigentliche Mehrwert liegt ja auch in der gesellschaftlichen Mobilisierung: Das Thema Wohnungs-/Obdachlosigkeit ist auf einmal im Diskurs der Gesellschaft präsent. Hier liegt aus meiner Sicht der Mehrwert der Befragung: Sie konfrontiert die Gesellschaft mit einem Phänomen, dass die Menschen sonst gerne ignorieren möchten.



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