sozial-Branche

Corona-Krise

Interview

"Schnell wieder mehr Kontakte in Heimen zulassen"




Manfred Stegger
epd-bild/BIVA-Pflegeschutzbund
Der BIVA-Pflegeschutzbund sieht die aufgrund der Corona-Epidemie verschärften Besuchsregeln in Altenheimen kritisch. Nach einer Umfrage des Vereins seien in 90 Prozent aller Heime fast keine Angehörigenbesuche möglich. Welche bedenklichen Folgen das hat und was Alternativen dazu sein könnten, erläutert Vorstand Manfred Stegger im Interview.

Für Manfred Stegger steht außer Frage, dass die Hygienevorschriften in den Alten- und Pflegeheimen strikt eingehalten werden müssen. Allerdings sollte Angehörigen der Zutritt zu sterbenden Verwandten nicht verwehrt werden: "Ein sterbender alter Mensch muss nicht mehr vor einem Virus geschützt werden." Mit dem Vorstand des BIVA-Pflegeschutzbundes sprach Dirk Baas.

epd sozial: Herr Stegger, was bedeuten die wochenlangen Kontaktsperren für die isolierten Heimbewohner und deren Familienangehörige?

Manfred Stegger: Sie stellen eine extreme Belastung dar. Die meisten Familienangehörigen haben Verständnis für die Einschränkungen, aber sie sorgen sich auch um ihre Lieben. Viele sind verunsichert, manche berichten an unserem Beratungstelefon von weinenden oder depressiven Heimbewohnern.

epd: Immer wieder ist seitens der Bundesländer von Ausnahmen bei der Kontaktsperre die Rede. Wer darf nach wie vor in die Heime?

Stegger: Es ist nicht einfach, hier den Überblick zu behalten. Nahezu täglich ändert sich an den ohnehin schon unterschiedlichen Regeln etwas. Wir versuchen auf unserer Webseite eine täglich aktualisierte Übersicht zu bieten. Man hat das Gefühl, dass ständig aufgrund neuer Einzelfälle nachgebessert wird. Im Ergebnis führt das dazu, dass die Regelungen tendenziell immer schärfer werden.

epd: Was ist mit den Ausnahmen?

Stegger: Nahezu alle Länder erlauben theoretisch weiterhin Besuche, die medizinisch oder ethisch-sozial erforderlich sind. Etwa für die Begleitung im Sterbeprozess. In manchen Ländern können gesetzliche Betreuer, Anwälte oder Notare zum Besuch hereingelassen werden, aber nur, sofern das für ihre Tätigkeit notwendig ist.

epd: Funktioniert die palliativmedizinische Begleitung?

Stegger: Unsere Mitglieder berichten, dass Menschen zur Sterbebegleitung in die Heime hereingelassen werden, wenn sie mit Mundschutz ausgestattet und unter Beachtung der Hygienevorschriften einzeln direkt in das Zimmer des Sterbenden gehen. Dort, wo es Strukturen der Palliativversorgung etwa durch Hospizvereine gibt, scheint das auch gut zu funktionieren. Aber: In extremen Akutsituationen, wenn etwa das Haus unter Quarantäne steht, weil es viele Covid-19-Fälle gibt, scheint selbst die Sterbebegleitung untersagt worden zu sein.

epd: Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

Stegger: Jedes Beharren auf starren Regeln führt zu unnötiger menschlicher Grausamkeit. Wenn Angehörige Schutzmaßnahmen akzeptieren, sollte ihnen der Zutritt zum sterbenden Verwandten nicht verwehrt werden. Ein sterbender alter Mensch muss nicht mehr vor einem Virus geschützt werden. Er braucht neben einer palliativ ausgerichteten medizinischen Versorgung vor allem menschliche, moralische und geistliche Unterstützung in seinem allerletzten Lebensabschnitt. Er muss die Gelegenheit haben, sich von Angehörigen zu verabschieden und seine letzten Dinge zu regeln.

epd: Wegen der wachsenden Zahl an Infektionen in Pflegeheimen halten viele Experten und Politiker diese drastischen Maßnahmen für alternativlos. Was sagen Sie dazu?

Stegger: Die Sicherheitsmaßnahmen haben natürlich ihren Grund und wir würden nie empfehlen, sich über sie hinwegzusetzen. Alternativlos sind sie aber sicher nicht. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Werden alle erforderlichen Schutzmaßnahmen eingehalten? Allein der Mangel an Schutzkleidung macht es unmöglich, sämtliche Regelungen umzusetzen.

epd: Das bleibt nicht ohne Folgen ...

Stegger: Ja, weil man nicht ausschließen kann, dass auch die Pflegekräfte unbemerkt das Virus ins Heim bringen. Solange es diese Unsicherheit gibt, versucht man so viele Personengruppen wie möglich auszuschließen. Bei lückenloser Einhaltung der Schutzmaßnahmen könnte man mehr persönliche Kontakte ermöglichen.

epd: Ihr Verband hat eine Umfrage gemacht, wie die Angehörigen diese Sperren erleben und wie die Heime etwa im Fall von Sterbenden diese Regelungen auslegen.

Stegger: Die Menschen haben in den zurückliegenden drei Wochen von sehr unterschiedlichen Erfahrungen berichtet. Etwa davon, dass gerade in den ersten Tagen viele Einrichtungen Besuchsverbote strenger umgesetzt haben als es nach den Landesverordnungen nötig gewesen wäre. Die Umfrage, mit der wir Erkenntnisse zum Umgang mit solchen Krisen für die Zukunft gewinnen wollen, läuft zurzeit noch, aber wir haben erste Erkenntnisse. In 90 Prozent der Einrichtungen sind demnach keine Besuche durch Angehörige mehr möglich. Zu Beginn der Umfrage, als fast überall noch Besuche zumindest von einer Stunde pro Tag möglich waren, lag der Wert bei fast 80 Prozent. Knapp die Hälfte der Befragten berichten von noch weiter reichenden Maßnahmen. Hier dürfen auch die Bewohnerinnen und Bewohner das Haus nicht verlassen. Das beobachten wir mit Sorge, weil es einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsrechte darstellt.

epd: Was ergab sich mit Blick auf die ausgesperrten Angehörigen?

Stegger: Die Umfrage belegt die enorme Unterstützung, die Angehörige im Normalfall in den Heimen leisten und die jetzt wegfällt. Mehr als 90 Prozent der Befragten besuchten ihre Nächsten vor der Krise mindestens einmal die Woche, davon 38 Prozent täglich. Viele schildern, dass sie regelmäßig etwa bei der Nahrungsaufnahme zur Hand gehen. 70 Prozent äußern die Befürchtung, dass das Pflegepersonal die nötige Pflege und Betreuung ohne Hilfe der Angehörigen nicht leisten kann. Tatsächlich erreichen uns im Beratungsdienst schon Hinweise auf Dehydrierung und allgemeinem körperlichen Abbau einzelner Heimbewohner.

epd: Kritik an den radikalen Besuchsreglungen gibt es auch. Haben Sie eine vertretbare Alternative?

Stegger: Ziel muss es sein, sobald wie möglich mehr Kontakte zuzulassen. Solange das unmöglich ist, sollten innerheimische Sozialkontakte und Betreuungsangebote ausgebaut werden. Kontakte zu den Bezugspersonen außerhalb der Einrichtung sollten zumindest indirekt möglich gemacht werden, etwa durch Videotelefonie, "Winke-Fenster", wie man sie aus dem Kindergarten kennt, oder Unterhaltungen durch das gekippte Fenster mit Abstand und Mundschutz.

epd: Was ist noch denkbar?

Stegger: Verschiedene Aktionen, etwa, dass Angehörige vermehrt Karten und Briefe schicken und das Pflegepersonal Telefongespräche aktiv fördert. Man könnte auch einen gesicherten Besuchsraum einrichten, einen Raum also, der ausschließlich für Besuche unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen genutzt wird.

epd: Wäre es nicht möglich, alle Angehörigen, die negativ auf Corona getestet sind, wieder in die Heime zu lassen?

Stegger: In diese Richtung sollte man auch denken. Neben dem gesamten Heimpersonal sollten auch Angehörige regelmäßig in kurzen Abständen getestet werden. Wenn die Tests negativ ausgefallen sind beziehungsweise nach überstandener Infektion Antikörper festgestellt wurden, sollten sie die Bewohner unter Einhaltung von Hygienevorschriften besuchen können. Um die Betreuungsangebote auszubauen, wäre es auch denkbar, immunisierte Menschen vermehrt als Ehrenamtler zu gewinnen.

epd: Ist es akzeptabel, wenn die Heime noch länger mehr oder weniger abgeriegelt bleiben?

Stegger: Bis ein Impfstoff gefunden sein wird oder zwei Drittel der Bevölkerung immunisiert sein werden, gehen noch Monate ins Land. Solange müssen die vulnerablen Bevölkerungsgruppen weiterhin geschützt werden. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Zugang zu Pflegeheimen zunächst streng reglementiert bleiben wird. Deshalb müssen verhältnismäßige Lösungen gefunden werden. Den Betroffenen fehlt die Perspektive auf eine Zeit nach der Krise. Die durchschnittliche Verweildauer in Heimen liegt bei etwa 18 Monaten. Viele Menschen werden ihre Angehörigen oft nur noch einmal, und zwar im Sterbeprozess, zu sehen bekommen. Den Satz "Dann will ich lieber sterben" haben wir am Beratungstelefon schon häufiger gehört.

epd: Bundesweit fehlt Schutzkleidung. Wie reagieren die Einrichtungen, wenn sie keine Schutzausrüstung für ihr Personal mehr haben?

Stegger: Auch wenn es an Schutzkleidung fehlt, müssen die Bewohnerinnen und Bewohner weiter versorgt werden. Wir erfahren häufig, dass Pflegekräfte ihre Arbeit auch ohne Schutzkleidung tun. Auch von Pflegekräften mit selbstgenähten Mundschutzen wird berichtet. Pflegeeinrichtungen müssen auf jeden Fall bevorzugt Schutzkleidung bekommen. Dass das bisher nicht möglich war, ist in einem hoch entwickelten Land wie unserem nicht erklärbar.

epd: Welche Lehren sind aus den Versorgungsmängeln mit Blick auf die Bewohner der Heime zu ziehen?

Stegger: Diese nie dagewesene Krise ist ein Stresstest für das Pflegesystem. Jetzt zeigen sich deutlich Defizite und es gilt, daraus die richtigen Lehren zu ziehen. Wir brauchen verbindliche Planungen und Regelungen für Pandemien, möglichst auf Bundesebene, um unterschiedliche Regelungen in den Ländern zu verhindern. In Krisenzeiten kann es notwendig sein, Grund- und Freiheitsrechte aus Sicherheitsgründen einzuschränken. Die Mechanismen dazu müssen aber zuvor festgelegt, eingehalten und fortlaufend auf Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Derzeit beschleicht einen das Gefühl, dass viele Kompetenzen ungeklärt sind und Rechte sogar vorschnell eingeschränkt werden. Das muss später überprüft werden, um für die Zukunft besser gerüstet zu sein.

epd: Welche Konsequenzen sollten die Heime selbst ziehen?

Stegger: Auf Einrichtungsseite fehlt es ebenfalls teilweise an Notfallplänen für solche Krisen. Das zeigt sich etwa an der mangelnden Kommunikation. Viele Angehörige standen plötzlich ohne Vorankündigung vor verschlossenen Türen. Sie berichten von Anrufen ihre Lieben, die ebenfalls nicht wussten, was vor sich geht. Außerdem müssen die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten für Bewohnerinnen und Bewohner schnell ausgebaut werden. Das fordern wir schon seit langer Zeit. Es sollte auch für hochbetagte Menschen heute zum Standard gehören, mit dem Internet verbunden zu sein. Die heutige Krise wäre leichter zu bewältigen, wenn die Voraussetzungen in den Heimen und Kenntnisse der Benutzer bereits vorhanden wären.